Sein-Kolumne

Beziehungslegastheniker

Seit einiger Zeit bin ich dabei, auf meiner Straßenseite aufzuräumen. Dazu gehört es, mich selbst auf meine Mängel hin zu untersuchen. Gibt es Anteile in meinem Charakter, die nicht in Ordnung sind? Habe ich Fehler gemacht? Dabei wird mir klar, je mehr ich meine Charakterfehler erkenne, umso mehr erkenne ich auch, wie ich anderen Menschen Schaden zugefügt habe. Opferhaltung, reaktives Verhalten, der Anspruch, dass andere sich um mich kümmern, Erwartung von Zuwendung und Anerkennung – das sind alles meine co-abhängigen, infantilen Verhaltensweisen und Haltungen. Indem ich die Verantwortung für mein Leben übernehme, sehe ich erst, was wirklich passiert. Ich höre auf, andere zu beschuldigen. Weiterlesen

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Indien-Blog 2013

Die pure Essenz der menschlichen Erfahrung

1069864_10151628719974690_1981988308_nJa, es hat sich schon viel getan. Es ist wieder so, wie ich es eigentlich kenne. Es ist immer etwas los. Die Tage sind kurz und kurzweilig. Ich hatte ja in meinem ersten Blogeintrag geschrieben, dass ich mich fremd und uninspiriert fühle. Wie auch schon an anderer Stelle gesagt, finde ich es wichtiger herauszufinden, wo ich bin, anstatt wo ich sein soll. Emotional gemeint. Ich glaube, es war gut mir dies einzugestehen und ehrlich mit mir selbst zu sein. Es gab mir die notwendige Demut und Aufgeschlossenheit und Bereitschaft, um Gott zu bitten mir zu helfen. Mein Gott ist ja eine Göttin: Radha. Ich habe zu Radha gebetet, dass sie mir Inspiration gibt, dass Sie mir Ihre Barmherzigkeit gibt und mich in das spirituelle Bewusstsein eintreten lässt. Mein Wunsch wurde prompt erfüllt. Und zwar so schön, dass ich hier öffentlich nicht alles schreiben kann und darf. Die Liebe zu Radha und Krishna ist sehr sehr fein und sehr intim. Und weil es auch ganz viel mit mir selbst und meiner wahren Identität zu tun hat, ist es ratsam, die Dinge vorsichtig zu behandeln. Aber soviel sei gesagt: es geht um die wahre Identität.

Radha Kund

Radha Kund, der See, in dem Radha badet

Im Bhakti-Yoga gibt es eine spirituelle Wahrheit bezüglich unserer wahren Identität. In Bhakti-Yoga heißt es nämlich, dass wir in unserer wahren Identität einen spirituellen Körper haben, der geeignet ist, im göttlichen Spiel mitzuwirken. Dieser Körper und diese Identität, die damit zu tun hat, ist eine ganz persönliche Form, die sich als Manjari zeigt. Die Manjaris sind die jugendlichen Freundinnen von Radha. Jenseits aller Bedingtheiten und temporären Identifikationen, jenseits aller sterblichen Hüllen und Illusionen muss es eine Wahrheit geben. In der Tradition der Bhakti ist der spirituelle Meister in der Lage, dem Schüler seine ewige Form zu offenbaren. Diese Form nennt sich in Sanskrit „siddha-deha“, der ewige spirituelle Körper. Wenn man alle vergänglichen Welten hinter sich gelassen hat und in das spirituelle Reich Gottes eintritt, ist man dort nicht einfach nur ein Licht, das mit dem andern Licht verschmilzt, sondern man hat eine Gestalt, die dazu geeignet ist, Radha und Krishna Freude zu bereiten. Zum Beispiel gibt es Manjaris, die die Kleidung von Radharani vorbereiten, die das Bett machen, die Girlanden machen, die Essen darbringen, die Farbe auf die Füße von Radha und Krishna aufbringen oder deren Aufgabe es ist, die Liebe zwischen Radha und Krishna zu vergrößern, indem sie allerlei Arrangierungen treffen, um sie an einem geheimen Ort zusammenzubringen.

Man hört hier in Vrindavan viele von diesen Geschichten, von diesen Eigenschaften und Qualitäten der Gottheiten und allein dadurch, dass man sich damit beschäftigt, zuhört oder darüber spricht, kann man schon spirituelle Ekstase erleben.

Was verstehe ich unter spiritueller Ekstase? Es ist ein Ergriffensein, ein intensives Kribbeln im Brustraum, Tränen in den Augen, sehr intensive Glücks- und Liebesgefühle, eine tiefe seelische Rührung, die mir die Gewissheit gibt, dass dies das absolut Richtige ist, das Beste, was mir als Lebewesen und Seele passieren kann. Diese intensiven Gefühle stellen sich für mich nur in dieser Beziehung zu Radha und Krishna ein. Ich kann es nicht anders sagen. Ich finde das sonst nirgendwo. Es gibt in anderen spirituellen Traditionen andere Formen der spirituellen Ekstase oder der Erleuchtung. Jede ist anders. Jede ist eigen. Hier, in der Bhakti, ist es dieses tiefe emotionale Gerührtsein, dieses Weinen vor Glück und vor Liebe, was mich so fasziniert. Es ist mir schon wieder geschehen. Durch eine Barmherzigkeit des spirituellen Meisters. Es ist meistens ein Mensch, namentlich der spirituelle Meister, der uns die Barmherzigkeit gibt.

Sadhu Maharaja

Der spirituelle Meister des Ortes: Sri Sadhu Maharaja

„Die Barmherzigkeit geben“ ist in dieser Tradition ein stehender Ausdruck. Es bedeutet die Übertragung der Liebesgefühle auf den Aspiranten (die Übertragung der bhava und prema durch die kripa-shakti). Wir können uns diese spirituelle Ebene nicht selbst erarbeiten. Wir sind viel zu weit davon entfernt. Aber der spirituelle Meister oder ein anderer großer Gottgeweihte kann uns durch seine Barmherzigkeit auf diese Ebene hochziehen. Dieser Weg ist sehr einfach. Das Einzige, was es dazu braucht, ist Begierde. Die Begierde, diese Gefühle, diese bhavas, zu fühlen. Die großen Gottgeweihten sind immer bereit, das, was sie bekommen haben, weiterzugeben. Allein, es fehlt meistens bei den Anwärtern die Aufgeschlossenheit und Bereitschaft.

Aber so ein klein wenig von dieser Begierde habe ich schon. Sogar soviel, dass ich dem Guru ein Papier geklaut habe, dass er mir und zwei anderen Anwesenden zwar gezeigt hat, aber dann wiederhaben wollte. Ich habe es in einem unbemerkten Moment in meiner Hemdtasche verschwinden lassen. Auf diesem vertraulichen Papier ging es um die spirituelle Identität bestimmter mir namentlich bekannter Personen. Ich hatte allerdings dann ein so schlechtes Gewissen, dass ich später zu ihm hin bin und meine Tat gestanden habe. Er war mir nicht böse und sagte statt dessen, ich solle das Papier behalten und darüber meditieren. (…)

Das ist eben das Gute, wenn man in Vrindavan ist. Es geht überall und andauernd um dieses Thema: Wissen und Erfahrungen von Göttin und Gott. Jeder spricht andauernd darüber. Überall werden die Mantras rezitiert und die Gesänge angestimmt. Überall gibt es Tempelverehrungen, jeder beschäftigt sich im hingebungsvollen Dienst.

Auszug aus einem Vortrag von Jagandananda Prabhu:

(Jeden Tag um 16.30h ist eine Klasse von dem Sanskrit-Gelehrten Jagandananda. http://jagadanandadas.blogspot.in)

Nur in der siddha-svarupa (dem siddha-deha, der eigenen spirituelle Form) kann man die Spiele von Radha und Krishna sehen. Der Sadhana kultiviert die Bhava (die Liebesgefühle). Die Form wächst aus der Bhava. Das eigentliche Meditationsobjekt ist Bhava. Die Form offenbart sich dann. Wenn der spirituelle Meister dir deinen siddha-deha offenbart, ist das der Same für die Bhava.

Jagadananda Prabhu

Jagadananda Prabhu

Im sadhaka-deha braucht man auch die Rationalität, die tattvas, die philosophische Seite, um stabil zu bleiben. Die emotionale Ebene reicht im siddha-deha aus, aber nicht im sadhaka-deha (im materiellen Körper). Wir nutzen unsere rationale Kraft, um den rasa (den Geschmack, die Stimmung) zu unterstützen. Die rationale Seite ist der Diener der emotionalen Seite. Wenn man die rationale Seite zu stark macht, fällt man in shanta-rasa (eine neutrale Stimmung gegenüber dem göttlichen Spiel).

Was ist die pure Essenz der menschlichen Erfahrung? Was ist die Spitze der menschlichen Erfahrung? Wenn wir über Glück sprechen. Wenn wir alle Hindernisse und Unreinheiten rausnehmen. Wo finden wir Zufriedenheit? Was treibt uns voran? Was führt uns zur höchsten Wahrheit?

Erschaffen, Erhalten und Zerstören sind nur sekundäre Qualitäten Gottes. Das sind die aishvariya-Eigenschaften (die majestätischen Eigenschaften Gottes). Die höheren Rasas sind die Wichtigeren (madhurya-rasa, Freundschaft und Liebe)

Beispiel: Ein offizieller Regierungsvertreter möchte einen Termin beim Premierminister. Er wird gebeten, eine halbe Stunde zu warten. Nach einer dreiviertel Stunde fragt er, wie lange es noch dauert. Es stellt sich heraus, dass der Minister mit seiner kleinen Enkelin spielte. Seine Enkelin war ihm wichtiger als seine Anhaftung an die Macht seiner hohen Stellung.

Was ist an der Wurzel der Psyche? Wenn wir das befriedigen könnten, dann wären Korruption und fanatische Bereicherung an Geld und Macht, der endlose Durst nach Macht und Reichtum zu überwinden. Wir sprechen über die höchste Form der Göttlichkeit. Das ist eine intellektuelle Herausforderung.

Krishna-lila

Beim Schulfest gab es eine Aufführung des Krishna-lilas.

Noch ein paar Nachträge:

Bei allen spirituellen Höhenflügen gibt es doch auch irdische Vergnügungen. Gestern Abend lecker Pizza essen gewesen:

Hat echt gut geschmeckt!

Hat echt gut geschmeckt! Es gab außerdem Lasagne, Sabji, Salat, Ingwertee und als Nachtisch Applecrumble

Das Schulfest der Sandipani Muni-Schule fand heute statt. Sie feierten die Rückkehr der Yamuna nach Vrindavan. Die Yamuna ist der Fluss der hier vorbeifließt. Einer der drei heiligen Flüssen in Indien. Sie floss seit 25 Jahren einen anderen Weg und was hier in Vrindavan vorbeifloss, war nur das Abwasser aus Delhi. Aber jetzt ist der Original-Fluss wieder zurückgekehrt.

Ron mit den süßen Kindern der Sandipani Muni Schule

Ronald mit den süßen Kindern der Sandipani Muni Schule

Und hier noch ein paar Bilder von der Schule:

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Authentizität, Selbst

Der Hang ist positiv

image015Viele Menschen vertreten die Philosophie, dass Unabhängigkeit das Höchste ist. Demgemäß geht es um Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Diese Werte oder Tugenden sind sicherlich nicht verkehrt. Jedoch sind sie nicht das Höchste!

Was ist die Natur der Seele? Was ist unsere wesensgemäße Stellung? Viele Menschen vergessen, dass es Gott gibt. Sie kalkulieren ihre Existenz unabhängig von Gott. Ich glaube jedoch, dass wir als Seele oder als Lebewesen immer Gott untergeordnet sind. Wir sind Subjekte. Warum kommt das Wort Subjekt von dem lateinischen »subjectum«, was »unterworfen« bedeutet? Dieses alte Wort trägt eine tiefe Wahrheit in sich. Die wesensgemäße Stellung der Seele ist die Hingabe. Das bedeutet, wir sind immer Gott unterworfen und abhängig von Gott. Die Natur der Seele ist es, abhängig zu sein. Das ist die höchste Wahrheit, und das stellt die Seele am vollkommensten zufrieden.

Die Abtrennung von Gott führt dazu, dass wir Abhängigkeit oder den Hang negativ bewerten müssen. Wir wollen nicht abhängig sein und wir stellen unsere Berechnungen ohne Gott an. Und deshalb konstruieren wir eine Philosophie, in der es negativ ist, von etwas abzuhängen. Jedoch braucht jeder von uns etwas, an das er sich halten kann. Da wird dies leugnen, können wir nicht verstehen, warum wir leiden.

Warum finden wir es so schlimm, an etwas zu hängen? Dieser Ausdruck weist uns schon in eine gute Richtung. Es ist ein Ausdruck der Wertschätzung und Zuneigung. Wir gebrauchen diese Redewendung gerne für Objekte, zu denen wir einen positiven emotionalen Bezug haben: „Ich hänge an dem Schaukelstuhl, den mir meine Oma vermacht hat.“ Aber es fällt uns schon schwer, zu sagen, dass wir an einer Person hängen. Hier schwingt schon etwas von Abhängigkeit mit, von Kontrollverlust.

Und das ist eben auch das hinter der Unabhängigkeitsphilosophie liegende Motiv: der Wunsch nach Kontrolle. Wegen diesem niederen Motiv zerstören wir die Wahrheit, leugnen unsere Position in der Ordnung der Dinge und gehen in die Irre.

Um wie vieles leichter wäre es, unsere immer und unter allen Umständen gegebene Abhängigkeit anzunehmen?

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Philosophie, Selbst

Fühlen und Denken

Verbundenheit

Verbundenheit

Heute hörte ich von einem Sonderheft „Psychologie heute“ über Depression. Die Person, die mir davon erzählte, gab folgende Aussage aus dem Heft wider:

„Gedanken sind nicht die Wahrheit. Gefühle sind nicht die Realität. Gefühle werden durch die Gedanken erzeugt.“

Das habe so in einem der Artikel gestanden und komme aus dem Buddhismus. Ich habe das Zitat nicht nachgeprüft. Darum geht es auch nicht. Die o.g. Aussage ist ziemlich eindeutig und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dass dies die generelle Haltung des Buddhismus ist, kombiniert mit westlicher Psychologie, ist auch keine Neuigkeit.

Das macht sie aber deswegen nicht wahr.

Ich möchte hier ganz thesenhaft und roh meine durch Innenschau, Wahrnehmung und philosophische Forschung gefundenen Erkenntnisse dazu wiedergeben.

+ Die Gefühle sind die Realität.
Es gibt tatsächlich keine andere Realität im Sinne einer echten essentiellen Bedeutsamkeit für uns Menschen. Die objektive Faktizität eines rohen materiellen Bestandes der Außenwelt wurde schon seit Anfang des 20. Jhs. dekonstruiert und es wurde gezeigt, dass ein naiver Objektivismus nicht existiert. Unsere Wahrnehmung von der Außenwelt ist also immer durch unsere Subjektivität gefärbt. Die philosophischen Moden überstürzten sich in der Annahme, dass es gar keine Realität gäbe, oder dass sie zumindest nicht objektivierbar, also nicht für mehrere Subjekte gleich wahrnehmbar sei.
Bei all diesen philosophischen Schulen wird jedoch die Architektur des menschlichen Wesens nicht vollständig in Betracht gezogen. Der Mensch ist primär ein fühlendes Wesen. Der Sinn des menschlichen Lebens, wie allen Lebens, ist es, bestimmte Gefühle zu erfahren, nämlich Freude und Liebe, sowie deren Derivate wie etwa Geborgenheit, Frieden, Zugehörigkeit, Schutz usw.
Weder materielle Gegenstände noch Gedanken können den Menschen zufriedenstellen. Die Realität des Menschen ist seine Existenz, sein Leben, und das ist geprägt durch die o.g. Gefühle und Bedürfnisse.

+ Die Gefühle sind die primäre Realität des Menschen, nicht die Gedanken.
+ Echte Gefühle entstehen nicht aus den Gedanken.
+ Es gibt zwei Sorten von Gefühlen, die primären und die sekundären.

Die primären Gefühle sind die unmittelbaren Wahrnehmungsreaktionen auf die Umwelt und geben uns Rückmeldung über unsere momentane Situation. Die sekundären Gefühle sind durch Gedanken ausgelöst.
Wenn ich z.B. bei Glatteis im Auto eine abschüssige Straße hinunterfahre, an deren Ende eine Kurve kommt, habe ich Angst. Das ist eine natürlich und vernünftige Reaktion auf die Außenwelt. Es IST gefährlich, so eine Straße bei Eis hinunterzufahren.
Wenn mir nun jemand erklären will, dass ich nur Angst habe, weil ich denke, es sei gefährlich, dann hat diese Person einen Teil der Kausalitätskette herausisoliert und den begründeten Anfang ignoriert. Natürlich denke ich auch, dass die Straße gefährlich ist. Schließlich habe ich einen Führerschein und habe Erfahrung im Autofahren. Dennoch kommt der Gedanke zeitlich nach dem Gefühl der Angst.
Natürlich kann ich durch den Gedanken, dass vor mir eine Schlange liegt, Angst auslösen. Tatsächlich handelt es sich vielleicht um ein Seil, das in der Dunkelheit wie eine Schlange aussieht (das berühmte Beispiel, dass im Advaita-Vedanta dazu benutzt wird, die Illusion der Welt zu beweisen – welch eine törichte Argumentation). Diese Angst ist eine sekundäre Angst, weil sie durch die Gedanken ausgelöst wurde – sie ist ein sekundäres Gefühl.
Gleichwohl gibt es gefährliche Schlangen, die Angst ist also nicht ganz unbegründet. Wenn jemand einmal von einem Hund gebissen wurde, dann hat er danach mehr Angst vor Hunden als vor diesem Vorfall. Das ist eine Angst, die auf einer realen emotionalen Erfahrung beruht, dem Schrecken und der Angst, die aus dem Hundebiss resultiert. Wenn ich als Kind von einem Erwachsenen sexuell missbraucht wurde, dann löst eine Situation in der Gegenwart, die mich an diese Situation in der Vergangenheit erinnert, wieder Angst aus. Nun vom Denken her versuchen zu wollen, diese Angst als Illusion hinzustellen und dadurch zu entkräften, ist sinnlos. Das Beste, was man dadurch erreichen kann, ist in die Transzendenz zu flüchten, dann ist man aber nicht mehr hier und jetzt und die nächste ähnliche Situation wird wieder die Angst auslösen. Die Angst wird nur verdrängt aber nicht geheilt. Man muss sich dann aus allen betreffenden Situationen fernhalten, weshalb auch alle Transzendenzreligionen zur Weltflucht neigen. Sie kompensieren ihre verdrängten Gefühle durch negative Werturteile und Philosophien über die Welt.
Die primären Gefühle sind die primären, menschlich relevanten Rückmeldungen zur Außenwelt.

+ Echtes Denken ist Nach-Denken.
D.h. das Denken kommt nach dem Fühlen und Erfahren. Echtes Denken dient dazu, Muster in der Außenwelt bzw. in den emotionalen Rückmeldungen zu erkennen, die mir eine Prognose über zukünftige Folgen ähnlicher Situationen ermöglichen. Logik ist das Wissen von dem, was man aus Erfahrung erwartet. In diesem Sinne ist auch alles Denken auf die Vergangenheit und die Zukunft gerichtet, es kann in der Zeit reisen und zwar schneller als das Licht. Echte Gefühle dagegen sind ausschließlich im Jetzt, in der Gegenwart. Dafür haben sie Lebensenergie, was das Denken nicht hat.
Cleanes Denken ist Nach-Denken. Zuerst passiert etwas oder wir erleben und tun etwas. Danach versuchen wir mit dem Denken, das Muster darin zu erkennen. Denken ist Empfangen.
Wir missbrauchen das Denken, indem wir damit bestimmen wollen. Anstatt die Wirklichkeit zu erkennen, wollen wir sie bestimmen. Das Denken wird von der Wirklichkeit abgekoppelt, rotiert in sich selbst und gebiert künstliche Welten, autologische Gebilde, die nicht aus der Wirklichkeit abgeleitet sind, sondern auf dem Kick der logischen Geschlossenheit beruhen – ein Scheinfriede, eine Scheinantwort, eine Welt der Illusion, getrennt von der Wirklichkeit, von mir und von Gott, und von den Menschen. Das ist mentale Masturbation.
Die Bestimmung kommt nicht vom Denken, sondern von unserem Spirit.

+ Denken kann Gefühle erzeugen.
Dies sind die sekundären, mental induzierten Gefühle. Man kann sie auch Pseudo-Gefühle nennen. Solches Denken ist kein Nach-Denken, sondern Vor-Stellen.

Das primäre Gefühl: –> Das sekundäre Gefühl:
Angst –> Panik
Wut –> Groll
Schmerz –> Leid
Freude –> Vergnügen
Liebe –> Hörigkeit, Besessenheit

Panik ist eine Angst ohne reale Grundlage. Sie ist grenzenlos und bodenlos, sie hat keinen Grund, sie ist dysfunktional und gibt keine Rückmeldung über die Außenwelt. Zum Beispiel produziert der Gedanke, ich habe etwas falsch gemacht, Panik.
Groll resultiert aus den Gedanken, die die Wut unterdrücken. Groll hält sich an der Vergangenheit fest und wiederholt bestimmte Situationen wieder und wieder im Geist.
Leid ist der diffuse, unbestimmbare und unverstehbare Schmerz, die Depression, die totale Frustration.
Vergnügen ist der mental oder materiell induzierte Kick, die Droge, die man einfährt, um sich wegzumachen. Vergnügen wird aus den Gedanken geboren. Zum Beispiel: »Ich bin der Schöpfer meiner Welt. Ich bin Gott.« Dann geht es mir gut und ich genieße das Leben. Tatsächlich ist es eine riesige Illusion und es ist eine Frage der Zeit, wann die Seifenblase platzt.
Hörigkeit und Besessenheit sind die exzessive Anhaftung an ein Objekt, einen Ort, eine Handlung oder einen Menschen. Das sind die manifesten Suchtprozesse. Es ist die völlige emotionale, kognitive und spirituelle Abschottung von der Außenwelt. Die Außenwelt wird nicht mehr gefühlt, sondern nur noch ausgebeutet und missbraucht.

+ Spiritualität ist nicht Fühlen.
Die spirituelle Ebene und die emotionale Ebene sind zwei eigenständige, voneinander verschiedene Qualitäten. Die emotionale Ebene wurde bisher in den spirituellen Traditionen weitestgehend vernachlässigt. Meistens wurde sie dem Denken zugeschlagen und in der Regel als minderwertiges Anhängsel derselben abgetan. Tatsächlich haben wir mit der emotionalen Sphäre eine vierte Dimension neben Körper, Geist und Seele.
Die spirituelle Dimension betrifft den Anteil unseres Wesen, der jenseits von Raum und Zeit existiert, die Stille, das Göttliche, das Nichts, das Paradies, die ewige spirituelle Seele. Dieser Raum der Transzendenz hat mit der diesseitigen Welt nichts zu tun. Wir können als spirituelle Wesen in diesen Raum gehen, dann lassen wir aber unsere menschliche Form und Inhalt zurück. Dann sind wir keine Menschen mehr. Sobald wir aber in die menschliche Sphäre zurückkommen, gelten auch wieder die entsprechenden Bedingungen. Das bedeutet, es ist unmöglich, emotionale Wunden durch den spirituellen Teil unserer Person zu heilen. Wir können entweder die menschliche Form für immer aufgeben, dann gehen wir in die Transzendenz ein, oder wir heilen die emotionalen Wunden und erfüllen unsere emotionalen Bedürfnisse in der menschlichen Form.

+ Emotionen sind auch die Essenz der spirituellen Sphäre.
In dem Bestand der Weltreligionen lässt sich beobachten, dass die theistischen Religionen von Liebe zu Gott geprägt sind. Während Buddhismus und Advaita aufgrund ihrer These, dass die ganze Welt und im Buddhismus sogar das Selbst Illusion sind, jegliche Gedanken und Gefühle ebenfalls als Illusion deklarieren, finden wir in den theistischen Religion (Christentum, Judentum, Islam, Krishna-bhakti) Gefühle im Zentrum der religiösen Erfahrung. Die Liebe zu Gott, die Freude am Dienen, das Vertrauen und die Geborgenheit in Gott sind zentrale Motive und erfüllen den Praktiker. Der Sinn des Lebens besteht in der Erfahrung dieser Gefühle, und in diesen spirituellen Traditionen besteht sogar der Sinn der Spiritualität in der Erfahrung dieser Gefühle.
Die ausführlichste Beschreibung dieser Gefühle findet sich im theistischen Vedanta, der Tradition der Krishna-Bhakti. Bhakti heißt Liebe. In der Bhakti-Tradition werden diese Gefühle »rasa« und »bhava« genannt. Rasas sind die verschiedenen emotionalen Stimmungen in Bezug zu Gott wie Neutralität, Zorn, Geschwisterlichkeit, Erotik, um nur einige Beispiele zu nennen. Bhavas sind die verschiedenen Intensitätsstufen der direkten Gefühle der Gottesliebe.
Während der Advaita-Vedanta und der Buddhismus eine kognitive, mentale Erleuchtung zur Verfügung stellen (jnana), bieten die theistischen Traditionen zuerst eine emotional ausgerichtete Erleuchtung an (bhakti). Beides hängt in der menschlichen Form zusammen. So führt Bhakti zu Jnana und Jnana zu Bhakti. Es muss jedoch die Priorität der Bhakti festgestellt werden, da sie direkt an der emotionalen Sphäre ansetzt.
Alle diese spirituellen Dispositionen sind für den Menschen relevant, was bedeutet, dass die menschliche Disposition systemisch über den spirituellen Dispositionen steht und diese bestimmt. Deshalb ist die Priorität der Emotionen auch für die spirituelle Sphäre gegeben.

+ Das Leben selbst ist das Spirituelle.
Es gibt keine andere Realität als das Leben. Es gibt Szenarios und Geschichten über eine andere Welt, aber diese sind nicht die Realität. Die Realität ist das, was ist; das Gegebene. Das Sein ist. Im Sein ist das Leben.
Das Leben ist ein spirituelles Phänomen. Das Leben in seiner gesunden Form und im richtigen geistigen Verständnis IST das Spirituelle. (1)
Und deshalb sind die Emotionen auf der GANZEN Linie primär. Sowohl in der menschlichen Lebensform als auch in der ewigen spirituellen Transzendenz im Reich Gottes, im Paradies, in Goloka Vrindavan, wo wir in einer ewigen Liebesbeziehung mit Gott leben. Dieser absolute Ort ist aber nicht zeitlich oder räumlich verschieden von dem Ort, wo wir jetzt gerade sind. Er ist hier und jetzt. Wir merken es nur nicht.

+ In der Heilung der Gefühle/Emotionen wird die Erleuchtung erreicht.
Tatsächlich sind es die verdrängten Primärgefühle, die uns von der Erleuchtung abhalten. Die Verdrängung erfolgt durch die da-vor-gestellten Gedanken, die in vielfältigsten Philosophien und Glaubenssysteme ihre Ausformung finden. Die Rationalisierungen, Verharmlosungen und Leugnungen des Mentalkörpers sind die Medikamentierungen des emotionalen Schmerzes, der Angst und der Wut. Sie sind auch die artifiziellen Stimuli der erwünschten Emotionen der Freude und Liebe. Deshalb liegen der Buddhismus und der Advaita hier als mentale Erleuchtungssysteme richtig. Sie dekonstruieren die Gedanken. In der Tat: Die Gedanken sind nicht die Wahrheit, wie ganz oben in der Ausgangsaussage konstatiert.
Mit geheilten Gefühlen kann man die Gefühle wieder spüren und ausdrücken. Daraus entsteht Berührung und Verbundenheit, mit sich, mit anderen und mit Gott. Dann kann man auch die Gefühle zu Gott in ihrer reinen, nicht missbrauchten Form erfahren. Aus dieser Freude und Liebe entsteht Sein. Und aus diesem Sein entsteht Wissen. Das ist die richtige Reihenfolge. (2)

+ Die primäre Richtung der Liebe ist das Nehmen der Liebe.
Wir nehmen die Liebe von Gott, denn er ist der Ursprung der Liebe. Wenn wir Liebe von jemandem nehmen, fühlt dieser die Liebe. Wir geben nicht direkt Liebe, sondern indirekt, indem wir Liebe nehmen. Wir sind nicht der Ursprung der Liebe, sondern die Quelle der Liebe. Der Ursprung ist eins, die Quelle ist zwei. (siehe dazu den Blog vom 16.01.2010)

Ronald Engert, 1.2.2010

Fußnoten:

1 Man kann das Leben als Mensch oder in der materiellen Welt als materiell einstufen, aber das ist nur eine geistige Haltung. Die geistige Haltung erzeugt das Materielle. Das sind die Ausbeutungs- und Missbrauchskonstrukte des besessenen Denkens, das mittels Ausbeutung und Missbrauch seine Pseudogefühle am Leben befriedigt.

2 In der vedischen Terminologie stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar:
Freude (ananda) und Liebe (bhava) ist die theistische Gotteserfahrung (bhagavan). Gott als DU.
Sein (sat) ist die Erfahrung der eigenen Göttlichkeit (paramatma). Gott als ICH.
Wissen (cit) ist die Erfahrung der Göttlichkeit und Vollkommenheit von allem (brahman). Gott als ES.
Dies ist die vollständige Gotteserfahrung in ihrer Dreiheit (Dreifaltigkeit, Trinität), wie sie in den vedischen Schriften niedergelegt ist und heute von Ken Wilber und Daniel Barron rekonstruiert wird, ohne dass sie die entsprechenden vedischen Quellen kennen. Dazu werde ich zu gegebener Zeit einen eigenen Artikel verfassen.

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