Sein-Kolumne

Beziehungslegastheniker

Seit einiger Zeit bin ich dabei, auf meiner Straßenseite aufzuräumen. Dazu gehört es, mich selbst auf meine Mängel hin zu untersuchen. Gibt es Anteile in meinem Charakter, die nicht in Ordnung sind? Habe ich Fehler gemacht? Dabei wird mir klar, je mehr ich meine Charakterfehler erkenne, umso mehr erkenne ich auch, wie ich anderen Menschen Schaden zugefügt habe. Opferhaltung, reaktives Verhalten, der Anspruch, dass andere sich um mich kümmern, Erwartung von Zuwendung und Anerkennung – das sind alles meine co-abhängigen, infantilen Verhaltensweisen und Haltungen. Indem ich die Verantwortung für mein Leben übernehme, sehe ich erst, was wirklich passiert. Ich höre auf, andere zu beschuldigen.

 

Es ist bestürzend, wie wenig es gibt, was ich anderen anlasten kann, wenn ich aus der Opferhaltung heraus gehe. Jede scheinbar vernünftige Erklärung steht auf dem Prüfstand. Habe ich eine als Opferhaltung enttarnt und die darunter liegende Wahrheit anerkannt, kann die sich auch wieder als Leugnung meiner Verantwortung entlarven, und es geht noch tiefer. Ganz unten, auf der untersten Ebene, ist die Wahrheit, unter all den Bedeckungen. Dann ordnet sich die Erklärung der Welt neu. Und auch politische und gesellschaftliche Einschätzungen ändern sich.

 

shakehand

 

Ich sah mich oft als Opfer, verdächtigte die Anderen böser Absichten. Aber nun sehe ich, dass ich selbst es war, der unnahbar und abweisend war. Es war mein Stolz und meine Arroganz, gepaart mit dem infantilen Anspruch, dass die Anderen sich um mich kümmern müssen – gleich einer Bringschuld –, der meine Beziehungen schwierig machte. Wenn ich all die Illusion abstreife und in der Wahrheit sehe, dann wird mir erst klar: All die Menschen wollten einfach in Kontakt mit mir sein, sie mochten mich. Aber ich konnte es oft nicht nehmen. Und ich konnte nicht aktiv Liebe geben.
Ich lerne zu erkennen, dass ich selbst es bin, der in Beziehung gehen kann und muss. Es ist meine Verantwortung und Aufgabe. Und je mehr ich auf meiner Seite bleibe und in meine Verantwortung gehe, umso weniger muss ich die anderen Menschen bewerten und verändern. Dies fällt vielmehr weg, und was bleibt, ist Mitgefühl und Liebe.

 

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7 Gedanken zu “Beziehungslegastheniker

  1. katja schreibt:

    es ist ein langer, oft sehr schwerer weg der erkenntnis…aber er ist gehbar und am ende ist eine große befreiung duch und von sich selbst die belohnung. ich kenne genau das beschriebene nur all zu gut. lieber ronald… genau dieser artikel braucht eine größere öffentlichkeit, damit all die, die auf dem weg sind, erfahren, das eben dieser weg der richtige ist und die anderen suchenden nicht verzagen.

  2. Mühlethaler Ursula schreibt:

    ja es ist wie eine Gesetzmässigkeit in uns die spricht… das hinhören und umsetzen ist oft eine Schwierigkeit der Überbrückung … Beziehungsfindung in Berührungspunkten kreiert sich vielmals schwierig…

  3. Axel schreibt:

    Ist es schmerzlich und ein steiniger Weg zu sich selbst zu finden, aber ich glaube es ist kein Mangel wenn man im Umgang mit seinen Mitmenschen und seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen Fehler macht, man ist ja noch neu auf dieser Welt und muss sich meist alles selbst aneignen, seinen Weg finden.
    Meine Handlungen sind gelenkt von dem was ich für richtig halte, (ich meine mich selber) von dem wie ich die “Welt” sehe, von falschen und überzogenen Vorstellungen, da bleiben Endtäuschungen nicht aus.
    Aber schon in dem Augenblick, in dem ich mein Handeln und Denken hinterfrage, nicht den äußeren Umständen, den anderen Menschen die Schuld gebe, sehe ich mich auf dem Weg zur Besserung im Umgang mit mir selbst und den anderen Menschen.
    Seit ich mich mag wie ich bin, bzw. ich mich selbst akzeptiere, beobachte ich an mir das ich andere Menschen nicht mehr hinterfrage, ich nehme sie an wie sie mir erscheinen, was freilich nicht heißt das mir jeder Mensch sympathisch ist, aber ich urteile nicht über ihn, es steht mir ja frei weiterzugehen.

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