Der Streit um die Fakten ist eine falsche Auseinandersetzung. Fakten bzw. Tatsachenwahrheiten werden in der Politik immer als Meinungen instrumentalisiert. In Wirklichkeit geht es um die dahinterliegenden Interessen. Wir müssen uns also die jeweilige Ideologie anschauen, anstatt uns um die Fakten zu streiten. Der Artikel bezieht sich auf Hannah Arendts Aufsatz »Wahrheit und Politik«. Arendt arbeitet den Unterschied von Fakten und Meinungen heraus und macht in ihrem Aufsatz deutlich, dass wir uns in einen bodenlosen Abgrund begeben, wenn wir die Tatsachenwahrheiten aufgeben. Der Mensch braucht die Wirklichkeit, um eine stabile Orientierung in der Welt zu finden.
Hannah Arendts Aufsatz »Wahrheit und Politik«
Arendt vergleicht in ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik und macht deutlich, dass Wahrheit etwas anderes ist als Macht. Der Bereich der Politik dreht sich um die Macht. Die Wahrheit erweist sich aber in der öffentlichen Welt allzu oft als ohnmächtig. Das Gegenteil der Wahrheit ist die Lüge, und so ist die Lüge so gut wie immer konstitutiv für die Ziele, die die Macht erstrebt. Allein, wir fühlen, dass dies nicht befriedigend ist. Hannah Arendt formuliert es so: »Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?« (Arendt, 44, alle Zitate aus dem Buch, Quelle am Ende)
Bereits Platon wusste, dass die Wahrheit nicht immer beliebt ist. Am Ende seines Höhlengleichnisses schreibt er, dass derjenige, der versucht, die Menschen aus der Fessel der Illusion zu befreien, gefährlich lebt. Sie würden ihn, »wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, auch wirklich töten« (47). So erging es Sokrates, und so erging es Jesus. Auch Thomas Hobbes wusste in seinem Hauptwerk ›Der Leviathan‹ zu berichten, dass »Menschen Wahrheit nur willkommen heißen, wenn sie niemandes Vorteil oder Gefallen beeinträchtigt« (47). Heute kann man dazu sagen: Wir akzeptieren jedes Argument, das zu unserer Meinung passt.
Wenn man sich mit der Frage, was Leben eigentlich ist, befasst, findet man viele Erklärungsmodelle, die aber alle nicht so wirklich klar sind. So richtig weiß eigentlich niemand, was Leben ist. Ist es nicht faszinierend, dass ein Grashalm wächst? Dass da, wo vorher nichts war, nun eine Pflanze oder gar ein ausgewachsener Baum steht. Woher kommt dieses Holz oder dieses Zellgewebe? Wie wird aus einer winzigen Eizelle ein Embryo, dann ein Baby und schließlich ein erwachsener Mensch? Wie manifestiert sich ein Apfel?
Obwohl wir täglich von diesem unbeschreiblichen Wunder umgeben sind, wundert sich darüber niemand. Und es versucht auch niemand, dieses Wunder zu enträtseln. Natürlich gibt es da die Wissenschaft, die uns erklärt, dass wir aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Phosphor bestehen. Oder manche Menschen glauben, wir bestehen aus Sternenstaub – eine etwas romantischere Vorstellung, die dem nüchternen Realismus der rationalen Wissenschaft etwas mehr Farbe hinzufügt. Trotzdem sind wir dann immer noch Staub. Sogar die Bibel erklärt uns: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Demgemäß wurden wir aus Erde bzw. Staub gemacht und gehen nach dem Tod zurück in diesem Zustand.
Die Wissenschaft
Die Wissenschaft behauptet, sie könnte uns erklären, was Leben ist. Aber noch keinem einzigen Wissenschaftler ist es gelungen, einen Grashalm oder eine Ameise zu erzeugen. Sie beschreiben nur die materielle Seite des Lebens, die aber nicht die Ursache, sondern die Wirkung des Lebendigen ist. Die Wissenschaftler beschreiben nur das, was sie mit ihren Sinnen wahrnehmen können, das heißt, was sie messen und wiegen können. Ironischerweise ist ausgerechnet die Physik – eine der sich an materiellen Phänomenen am stärkstenorientierendenWissenschaften überhaupt – nun regelrecht dazu gezwungen, nicht-materielle Ursachen für beobachtbare Phänomene zu akzeptieren. Der berühmte Beobachtereffekt (siehe weiter unten) ebenso wie Quantenphänomene*, die die Gesetze von Raum und Zeit übertreten, weisen darauf hin, dass über die kausalen Wechselwirkungen innerhalb der 3-D-Welt hinaus Dinge wirken, die eigentlich keine Dinge sind, weil sie materiell nicht wahrnehmbar sind. Hochkarätige Quantenphysiker wie Carl Friedrich von Weizsäcker oder sein Schüler Thomas Görnitz sprechen von Quanteninformation bzw. auch von Informationsfeldern, die auf die Materie wirken. Philosophischer formuliert könnte man das Prinzip Information auf das Wort Geist oder auch Bewusstsein ausweiten. Der Beobachtereffekt etwa impliziert, dass Licht sich nur dann als Teilchen manifestiert, wenn es beobachtet wird. Wenn es nicht beobachtet wird, verhält es sich wie eine Welle. Auch ist es nicht möglich, gleichzeitig Ort und Impuls eines Elementarteilchens zu bestimmen. Die Quantenverschränkung von zwei Elementarteilchen, die durch eine Atomspaltung entstanden sind, zeigt eine Verbundenheit der beiden, die zigtausendmal schneller als das Licht interagiert. In der Quantenwelt existiert eigentlich nichts wirklich, sondern nur virtuell als Möglichkeit. Erst wenn wir hinschauen, manifestiert sich etwas als materielles Ding oder als Faktum. Es braucht also diesen Beobachter, um etwas materiell zu manifestieren. Der Beobachter ist ein lebendes Wesen mit Bewusstsein und der Fähigkeit der Wahrnehmung.
Die Spiritualität
Die klassische spirituelle Sichtweise wiederum besteht eher darin, dass die Materie als Illusion oder als Traum betrachtet wird. Sei es nun die christliche Lehre, die das irdische Leben gering schätzt und als Staub definiert, was wieder zu Staub wird, und ein Reich proklamiert, das nicht von dieser Welt ist; oder sei es die indische Advaita-Lehre, die alles Diesseitige als unwirkliche Maya wahrnimmt, die man sich bestenfalls so zurechtträumt, wie es einem gefällt – die körperliche, diesseitige Welt ist nicht die Wahrheit und die Wirklichkeit. Allzu schnell werden von spirituell motivierten Menschen die materiellen Gesetze der Natur ignoriert und man glaubt, man sei allmächtig und könne alles erreichen, was man möchte. Aber es ist ja evident, dass ich als Mensch nicht fliegen kann, obwohl jede Fliege diese Fähigkeit besitzt. Und es ist auch noch niemandem jemals gelungen, dem Tode zu trotzen. Die Tatsache, dass wir sterben müssen, ist so universell, dass wir das genauso unhinterfragt akzeptieren wie das Leben.
Die Grenze
Aber nur, weil etwas so universal und universell gültig ist, dass man es nicht hinterfragt, heißt das noch nicht, dass es kein Wunder ist, und es heißt andererseits auch nicht, dass dieses Wunder nicht vielleicht doch erklärbar ist – wenn auch im Moment noch nicht mit den vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln. Wir befinden uns hier genau auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Spiritualität. Die Wissenschaft repräsentiert die Vernunft und das Erklärbare schlechthin. Die Spiritualität steht demgegenüber für das Wunderbare, das Unerklärbare, das Mysterium. Das Leben ist ein Wunder, das heißt, mit materiellen, rationalen Antworten nicht erklärbar, und doch ist es erklärbar oder sollte zumindest immer weiter erforscht und verstanden werden – mit über das rein Rationale hinausgehenden Mitteln.
Früher, als es noch keine Wissenschaft gab, wurde alles mit Wundern oder mit Zauberei erklärt. Die Wissenschaft hat uns aufgeklärt. Sie zeigte uns zum Beispiel, dass Krankheiten durch Bakterien oder Keime entstehen können und Hygiene oder antiseptische Mittel viele Krankheiten und damit viel Leid verhindern können. Zaubersprüche oder Wunderheilungen gibt es heute noch, aber sie sind nicht objektivierbar oder reproduzierbar. Sie sind sehr subjektive Phänomene und es hängt vom einzelnen Anwender (vom Klienten und vom Therapeuten) ab, ob sie funktionieren. Einzelne Fälle sollten daher nicht gleich als allgemeine Regel oder allgemein gültiges Gesetz deklariert werden. Wissenschaftlich gesehen wäre das jedenfalls ein Kategorienfehler. Da machen es sich esoterisch oder spirituell eingestellte Menschen manchmal zu einfach und schnell hat man ein Universalheilmittel für alle Krankheiten, weil es irgendwo ein oder zweimal funktioniert hat. Aber das ist dann nur eine Meinung und keine bewiesene Gesetzmäßigkeit. Insgesamt sind beide Welten, die Wissenschaft einerseits und die Spiritualität andererseits, wichtige Bereiche, die sich meines Erachtens gegenseitig ausbalancieren können. Sie können sich gegenseitig davor bewahren, zu sehr in das eine oder andere Extrem abzurutschen und sich damit von der Wahrheitzu entfernen.
Die Verbindung
Fragen wir uns nun, wie eine Wirklichkeit im Kern aussieht, die sowohl aus der materiellen wie aus der spirituellen Welt genährt wird, müssen wir ebenso die einseitigen Antworten der Wissenschaft wie auch die einseitigen Antworten der Spiritualität überwinden. Die Antwort wird spirituell sein, aber sie wird durch die Vernunft und die wissenschaftliche Erklärung ergänzt werden. Die beiden Ansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ein. Sie wirken Hand in Hand, denn je mehr Dinge von der Wissenschaft enträtselt werden, umso klarer tritt das zu Tage, was zum ewigen Geheimnis gehört.
Was ist also Leben?
Leben ist spirituell. Wir Lebewesen sind ewige spirituelle Seelen, ungeboren und unsterblich, jenseits von den 3-D-Bedingungen von Raum und Zeit, keine Materie, sondern Geist, Bewusstsein, spirituelle Energie, das Selbst, göttliche Kraft, ewige Gefährten von Göttin-Gott. Die Welt aus Kohlenstoff, Wasserstoff usw. ist der materielle Teil der Gesamtwirklichkeit, in der wir Formen aus materieller Energie nutzen (unsere Körper, in Sanskrit steht dafür das Wort »yantra«), um uns in der 3-D-Welt bewegen zu können. Aber in unserer ewigen Natur sind wir unabhängig von diesen Bedingtheiten durch Raum und Zeit.
Materie, die sich als Lebewesen manifestiert, kann nur durch diese Seelenkraft, durch unsere individuelle spirituelle Identität gebildet werden. Die Seele ist der spirituelle Funken, der den materiellen Körper bildet, wie ein Magnet, der die Eisenspäne in eine Form bringt. Beim Tod verlässt diese Bildekraft den Körper, dann beginnt dieser zu verfallen. In dieser 3-D-Welt gibt es eigentlich nichts Totes, sondern nur Lebendiges. Mutter Erde ist ein Lebewesen, jedes Gewässer ist ein Lebewesen, Pflanzen und Tiere natürlich auch. Was wir als tot wahrnehmen, sind abgetrennte Teile von Lebewesen oder tote Lebewesen. Zum Beispiel besteht ein Stuhl aus Holz. Dieses Holz gehörte einmal zu einem lebenden Baum. Wir haben den Baum gefällt, das heißt getötet, um das Holz nutzen zu können. Oder der Baum ist von selbst abgestorben und wir benutzen dann sein Holz. Fast alle Nahrung besteht aus getöteten Lebewesen. Deshalb sollte man nur Blätter, Blumen und Früchte essen, weil man dann die Pflanzen nicht töten muss. Getreide zum Beispiel essen wir, wenn es von selbst gestorben ist („wenn es reif ist“). Wir zermahlen es und machen daraus Nudeln oder Brot. Immer hat also Leben, also der Aufbau von biologischem Leben, auch mit der Zerstörung oder dem Abbau von biologischen Lebensprozessen zu tun.
Spirituelles Leben
Neben dem biologischen Leben, das eine Kombination aus Spirit und Materie ist, gibt es dann eben auch das spirituelle Leben, das ohne materielle Trägersubstanzen funktioniert. Reine Materie ohne spirituellen Funken gibt es eigentlich nicht, wie gesagt – wenn, dann nur Teile des Lebewesens, die abgefallen sind, zum Beispiel Haare oder Nägel, oder einzelne Steine, die man von Mutter Erde wegnimmt, oder Äste, die vom Baum gefallen sind usw.
Tote Materie gibt es eigentlich nur in der Vorstellung des materialistischen Menschen, der anderes Leben nicht als Lebewesen, sondern als Ausbeutungsobjekt sieht. Lebendes kann man nicht materiell ausbeuten, ohne es – körperlich oder seelisch – zu töten. Deswegen muss man es auf die eine oder andere Weise töten, um es auszubeuten. Es ist das Interesse des materialistischen Menschen, tote Materie zu haben, über die er nach Gutdünken verfügen, die er manipulieren und kontrollieren kann. Leben selbst ist aber souverän und frei, es kann nicht kontrolliert werden, auch wenn beispielsweise totalitäre Regimes das immer wieder versuchen (und letztlich doch irgendwann daran scheitern, weil das Leben sich nicht einsperren lässt und dagegen revoltiert).
Um als Mensch vollumfänglich lebendig zu werden, müssen wir uns darum dieser ungebrochenen Lebendigkeit annähern, das heißt: bewusst spirituell werden. Dazu gehört, Respekt und Achtung vor anderen Lebewesen zu haben, sie zu fördern, wachsen und gedeihen zu lassen. Das ist ein Ausdruck von Liebe, und Liebe ist nach meiner Erfahrung das höchste spirituelle Prinzip. Dass wir über das rein materielle Existieren diesen Weg gehen dürfen – das ist neben allem anderen Staunenswerten das eigentliche Wunder.
*Definition auf www.chemie.de: Quantenphänomene sind Effekte in der Quantenphysik, die durch Theorien der klassischen Physik nicht erklärt werden können. Die meisten Quantenphänomene zeigen sich nur unter speziellen Bedingungen und bei Messungen mit hoher Genauigkeit. Im alltäglichen Leben und ohne technische Hilfe sind sie nicht wahrnehmbar. Daher gibt es keine unmittelbar einleuchtende Anschaulichkeit, wie etwa die Parabel eines geworfenen Balls.
Ich freue mich, Euch mein philosophischen Werk vorstellen zu dürfen.
Band 1 erschien im August 2014. Band 2 nun im August 2015.
Die menschliche Existenz ist immer relativ. Es fällt uns schwer, absolute Maßstäbe zu finden, an denen wir unsere Ethik und unsere Moral ausrichten können. Verschiedene Menschen haben verschiedene Werte, und diese hängen ab von Ort, Zeit und Umständen. Leider sind wir als Menschen endlich und auch sterblich. Es gibt innerhalb der menschlichen Gesellschaft nur bedingt absolute Werte. Selbst Werte wie Gerechtigkeit oder Gleichheit werden fragwürdig, wenn es um das individuelle Selbst geht, das einzigartig ist und mit niemandem verglichen werden kann.
Die Aufsätze des Buches beschäftigen sich von verschiedenen Seiten mit der Frage, wie der einzelne sich als Subjekt und als Teil der Gesellschaft verorten kann. Es geht nicht um blinden Glauben oder religiöse Dogmen, sondern um eine erkenntnistheoretische Dimension. Der französische Philosoph Immanuel Levines hat auf dieser Qualität Gottes hingewiesen. Er ist der absolute Ort, von dem aus wir uns selbst und den anderen verstehen können. Der absolute Ort ist Gott, wie jeder für sich versteht. Mehr Infos und Bestellungen:www.tattva.de/der-absolute-ort
Inhalte:
Band 1: Aufsätze 1994-2007
Tattva Viveka Edition, Berlin 2014, Band 1, 376 S., geb., 24,80 €
Auch als eBook: 14,80 €
ISBN Print: 978-3-945129-06-7
ISBN eBook: 978-3-945129-07-4
Der rote Faden • Die Dialektik der Religion • Omnia videns. Zur Sprachtheorie der Kabbala • Zur Kritik der Gewalt • Platon und die Bhagavad-gita • Die Lebenskurve • Kritik des Intellekts • Geist, Leben und Materie • Das Eigene und das Fremde • Leben bestimmt Leben • Das Bewusstsein der Maschinen • Magisches Denken und esoterisches Gottesbild • Der 11. September und der Terror der westlichen Welt • Die Gottesvergiftung und die Wunde des Gewissens • Die Seele ist ewig • Wer bin ich? • Vedische Erkenntnistheorie • »Bleep« • Die drei Gesichter Gottes • Der Kreuzzug der Gottlosen • Über das Sehen
Band 2: Aufsätze 2008-2014
Tattva Viveka Edition, Berlin 2015, Band 2, 334 S., geb., 24,80 €
Auch als eBook: 14,80 €
ISBN Print: 978-3-945129-09-8
ISBN eBook: 978-3-945129-10-4
Warum Philosophie des Subjekts? • Religion als Sucht • Optimierung des Menschen? • Fühlen und Denken • Live Stream. Leben und Gefühl • Die Pforte zu sich selbst. Meditation und Wissenschaft • Entwirrung der Gefühle • Wir sind alle ewige Personen • Die Geschichte der Tattva Viveka • Woher kommt das Recht? • Ins and Outs. Männliche und weibliche Erkenntnis • Der subjektive Faktor und die objektive Wissenschaft • Sektenhetze als spirituelles Phänomen • Blick in die Ewigkeit. Nahtoderfahrungen • Die Ekstase der Gottesliebe • Die Kunst des Nehmens • Die spirituelle Bedeutung von Geld • Da ist niemand
Woher wissen wir, was gut und was böse ist? Wie setzen wir das Recht?
Rechtsphilosophie halte ich für eines der spannendsten Themen im Bereich Menschheit. Sie verschränkt die höchsten spirituellen Prinzipien mit dem existentiellen irdischen Leben. Wie können wir Gerechtigkeit erfahren? Wie regeln wir den gesellschaftlichen Umgang der Menschen untereinander?
In früheren Zeiten wurde das Recht von der Religion abgeleitet. Heutzutage ist dieser Bezugspunkt nicht mehr gebräuchlich und es stellt sich die Frage: Woher leiten wir jetzt das Recht ab?
Er leitete seine Rede mit einem schönen Beispiel ein. König Salomon wurde bei seiner Thronbesteigung von Gott eine Bitte freigestellt. Was erbat sich Salomon? Kein Geld, kein Erfolg, keine Macht. Er bat um ein „hörendes Herz“, damit er sein Volk regieren und Gut von Böse unterscheiden könne.
Der Papst argumentiert, dass es die Aufgabe des Politikers sei, nicht nach Erfolg oder materiellem Gewinn zu streben, sondern „dem Recht zu dienen“. Doch woher wissen wir, was Recht ist. Meist reiche die Mehrheit aus, aber es gäbe auch „Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit“ geht. Zu Recht weist der Papst auf ein Beispiel hin, wo in einem Unrechtsstaat der Widerstand zur Pflicht wird (Origenes, 3. Jh. n. Chr. über den Widerstand der Christen gegen die Skyten), und stellt auch die Widerstandskämper im Naziregime in diese Reihe. Hier greift das Recht der Mehrheit nicht mehr.
Die Quelle bei Origenes spricht vom „Gesetz der Wahrheit“. Aber was das sei, liege nicht so einfach zu Tage und sei nicht evident. Gerade in heutiger Zeit seien „die grundlegenden anthropologischen Fragen“ keineswegs geklärt. Es verliere sich vielmehr der geistige Bezug, da die moderne Philosophie und Wissenschaft rein positivistisch ausgerichtet sei. Positivismus besagt, dass nur das Funktionale und Messbare wirklich existiert. Man hält sich an das materiell Gegebene, das was in wissenschaftlichen Untersuchungen – im Prinzip in Messungen – einen positiven Befund zeigt, also „vorhanden“ ist. Positiv meint hier nicht das wertende „gut“, sondern das bloße Vorhandensein, vgl. „HIV positiv“. HIV-positiv bedeutet nicht, dass HIV gut ist, sondern dass jemand das Virus hat. Von einer lebensförderlichen Ethik her betrachtet ist „HIV positiv“ schlecht und „HIV negativ“ ist gut, weil HIV eine tödliche Krankheit ist und es gut ist, wenn man diese Krankheit nicht hat. In diesem Fall ist auch Zerstörung gut, nämlich dann wenn die Viren zerstört werden.
Zurück zur Papst-Rede. Früher sei das Recht in der Regel religiös auf göttliche Offenbarung begründet gewesen. Das Christentum habe auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen, „auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“ Die christlichen Theologen hätten sich „gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt.“ Benedikt führt mit diesem Passus die Kategorie des „Gewissens“ ein. Leider wird für mein Verständnis nicht klar, wie er dazu kommt (vielleicht ist das einfach der Kürze des Traktats geschuldet). Das Gewissen sei das hörende Herz Salomons, „die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft“. Das Gewissen ist also die menschliche Stimme der Vernunft. Dieses Gewissen hätte uns auch durch die Zeit der Aufklärung, der Erklärung der Menschenrechte und der Gestaltung unseres Grundgesetzes getragen. Mittlerweile sei jedoch eine dramatisch veränderte Situation eingetreten.
Durch den Siegeszug des Positivismus sei der Bezug des Seins zum Sollen verloren gegangen. Es zählt nur noch, was ist, und dieses werde durch funktionale – ich möchte ergänzen: mechanistische – Bezüge erklärt. Vor diesem Hintergrund wurden Ethos und Religion in die subjektive Sphäre verwiesen. Sie sind nicht mehr objektiv bestimmbar. Wir kennen das: ,Anything goes‘. „Da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt“, so der Papst, und: „Dies ist eine dramatische Situation (…)“.
Das führe in die Kulturlosigkeit und fordere zugleich extremistische und radikale Reaktionen heraus – ein wichtiger Punkt, finde ich. Wir schüfen fensterlose Betonbauten, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, ohne Fenster in die weite Welt Gottes. Obwohl wir doch nach wie vor von Gottes Vorräten schöpften!
Der Papst weist darauf hin, dass der Mensch sich nicht selbst gemacht hat. Das ist wichtig! Wir Menschen neigen dazu, uns in einem Ausschnitt der Realität einzurichten, indem wir uns selbst als gegeben voraussetzen, und vergessen dabei, dass auch dies eine Wahrheit ist: wir machen uns nicht selbst. Woher kommen wir also?
Spannenderweise zieht Benedikt ausgerechnet die ökologische Bewegung als Fürsprecherin für seine transzendentale Position heran. Jungen Menschen sei bewusst geworden, „dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen.“ Es gehe darum, „auf die Sprache der Natur zu hören“, und es gäbe auch eine „Ökologie des Menschen“. Auch der Mensch habe eine Natur, die er achten müsse und nicht einfach manipulieren könne. Der Mensch habe sich nicht selbst gemacht. Die Natur weise eine objektive Vernunft auf und Normen, die rechtsphilosophisch nur aus dem Willen kommen können. Also müsse es in der Natur einen Willen geben, was ein intelligentes Wesen, einen „Creator Spiritus“, also einen Schöpfergott, voraussetze.
Papst Benedikt ist schlau genug, an dieser Stelle nicht einfach nur auf die Religion zurück zu lenken. Er beruft sich auf das europäische Erbe aus dem Dreigestirn Jerusalem, Athen und Rom – der Gottglauben Israels, die philosophische Vernunft der Griechen und das Rechtsdenken der Römer. Indes – von der Überzeugung eines Schöpfergottes her sei die Idee der Menschenrechte entwickelt worden, die Gleichheit der Menschen, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Verantwortung des Menschen für sein Handeln.
Dies sind ohne Zweifel die Größen, um die sich ethische Fragen drehen. In der „Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen“ werden die Maßstäbe des Rechts gesetzt. Damit kehrt Benedikt zu der religiös begründeten Ethik zurück und kombiniert sie mit dem humanistischen Axiom der Menschenwürde, die rechtsphilosophisch gesehen meiner Meinung nach auch ohne Gott gedacht werden kann.
Benedikt endet mit der Bitte Salomons und empfiehlt den Politikern im Bundestag, um das hörende Herz zu bitten, „die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“
Es ist schon ergreifend für mich, dass eine solche tiefe rechtsphilosophische Fragestellung vor den pragmatischen Alltagspolitikern präsentiert wurde, und noch dazu von einer anerkannten Autorität. Die Politiker ergehen sich ja in der Regel nur in demagogischen Ego-Kämpfen, in ideologischen Reden und in Sachfragen. Das ist in gewissen Sinne auch ihre Aufgabe. Dennoch stellen sich diese grundlegenden Fragen, und nur allzu selten werden sie behandelt.
Die Notwendigkeit eines transzendenten Pols, also einer wie immer religiösen oder spirituellen Ausrichtung auf eine Höhere Macht, einen Schöpfer, Göttin-Gott, Großen Geist oder wie auch immer, bringt der menschlichen Erkenntnis eine dritte Dimension, gleichsam eine vertikale Achse. Eine Instanz über den Menschen schützt sie vor der Hybris, unantastbare Schöpfer zu sein, ganz oben an der Spitze zu stehen und allmächtig zu sein. Wir sind „nicht selbst gemacht“, wie Benedikt voll und ganz realistisch bedenkt. Demzufolge stehen wir nicht ganz oben und sind nicht allmächtig. Das gibt Demut und in der Tat sogar Erkenntnis der Realität, wie sie ist. Das daraus sogar die Verantwortung des Menschen für sein Handeln folgt, ist eines der Mysterien des echten Glaubens. Gott hat uns geschaffen. Wir sind gewollt. Der Mensch, der diese Schöpfung zerstört, weist Gott zurück. Wir haben diese Fähigkeit, Gott zurückzuweisen. Und genau daraus ergibt sich die unreduzierbare Verantwortlichkeit für unser Handeln trotz und gerade wegen Gott. Nicht blinder Glaube also, im Sinne eines kindlichen Gottesglaubens, der jede eigene Verantwortung leugnet, ist hier angezeigt, sondern die große Synthese aus Gott und der Welt. Wir Menschen können zwar die Schöpfung manipulieren und zerstören, aber wir können das nicht schöpfen, was Gott geschaffen hat. Noch keinem Wissenschaftler ist es gelungen, einen Grashalm zu erzeugen, ganz zu schweigen von einer Ameise oder anderem. Wir modulieren und manipulieren das Gegebene. Mehr können wir nicht. Wir können Gott zurückweisen und uns an seine Stelle setzen. Aber das ist nur eine Verkennung der Realität.
In der Anerkennung Gottes oder einer göttlichen Kraft enthüllt sich uns die Ethik und die Unterscheidung von Gut und Böse. Nicht als Normenkatalog, den es unter Androhung von Strafe zu befolgen gälte, sondern als inneres Wissen, als Ge-Wissen, das aus der rechten Einordnung des Menschen in die Schöpfung resultiert. Insofern ist wahres Recht das Gesetz der Wahrheit, dessen, was wahr ist, was tatsächlich ist. Nur in der Anwendung des wahren Bezugssystems fühlen wir die Stimmigkeit, den Kammerton A des Herzens. Es funktioniert. Dieses Bezugssystem ist keine Schöpfung des Menschen und unterliegt nicht seiner Entscheidung. Wir können es indes erkennen. Dann fällt alles an seinen rechten Platz und es offenbart sich alles, wie die Sonne am Tag alles erleuchtet.
Die Erinnerung ist immer etwas Abgeschlossenes, Festgestelltes. Vergangenes Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Es besteht hier eine Beziehung zwischen dem Abgeschlossenen der Vergangenheit und dem geschehenen Leid. Das Leid wird durch seinen Abschluss bestätigt.
Glück und Freude jedoch werden nicht durch einen Abschluss besiegelt, sondern tendieren zum ewigen Weitergehen. Ein Ende des Glücks widerspricht dem Wesen des Glücks. Insofern ist es nichts Abgeschlossenes und kann somit auch keine Erinnerung sein. Das Glück verhält sich anders zur Zeit, denn sein positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert.
(inspiriert durch Max Horkheimer und Walter Benjamin in: Walter Benjamin: Das Passagenwerk, Gesammelte Werke Band 5, S. 589)
Meditation & Wissenschaft 2010
Neue Perspektiven für unser Wissen von uns selbst
Interdisziplinärer Kongress zur Meditations- und Bewusstseinsforschung
»Dieses Ereignis ist erstmalig und einmalig in dieser Art«, sagte Gerd Scobel, der bekannte Fernsehmoderator, im Abschlusspanel der Konferenz »Meditation und Wissenschaft«. Dort saßen hochkarätige Experten und diskutierten über die Verbindung von Spiritualität und Wissenschaft in einer Weise, wie man es wohl selten zu hören bekommt. Meditation und Spiritualität galten bisher in der Wissenschaft flächendeckend als unwissenschaftlich, unseriös oder gar gleich als Wahnsysteme einer pathologischen Psyche. Wissenschaft war bis dato streng rational. Alles Welterkennen ließe sich in objektiven mess- und zählbaren Beschreibungen verorten. Was darüber hinaus ginge, das Nicht-Objektivierbare, sei kein Gegenstand der Wissenschaft und mithin keine Wahrheit.
Dr. Britta Hölzel, Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School, Boston, MA, USA
Wissenschaft hatte das Monopol auf gesicherte Erkenntnis, auf Vernunft und »gesunden Menschenverstand«.
Die Vertreter der Spiritualität hingegen versuchten zwar immer schon gerne, sich im reputativen Nimbus der Wissenschaftlichkeit zu sonnen, als scientific proof, erreichten dies jedoch lediglich über eine Umdefinition der Bedeutung des Wortes »Wissenschaft«, indem man einfach mal ganz unbedarft alles als Wissenschaft deklarierte, was man mit Gewissheit glaubte.
Wissenschaft ist jedoch mitnichten Glauben, und Spiritualität ist mitnichten objektivierbar. Dass die Subjekt-Objekt-Spaltung eines der fundamentalen Probleme der abendländischen Kultur ist, ist keine Neuigkeit. Umso spannender ist die Tatsache, dass sowohl Wissenschaft als auch Spiritualität aus ihren Kinderschuhen herauszuwachsen scheinen, indem Wissenschaft das Phänomen des Subjekts und der Subjektivität nicht mehr scheut und die Notwendigkeit der Integration subjektiver Daten erkennt (so die Neurophysiologin Prof. Dr. Tania Singer sinngemäß), und Spiritualität andererseits zunehmend aufklärerisch wird und erkennt, dass nach Abstreifen des blinden Glaubens die Spiritualität weiterexistiert, also irgendwie doch auch mit Vernunft und intellektueller Nüchternheit versöhnbar zu sein scheint (so preschte der Philosoph Prof. Dr. Thomas Metzinger direkt zum Begriff einer »säkularen Spiritualität« vor).
Blick in den Saal
Natürlich ist dies noch nicht zu jedem Wissenschaftler oder jedem Esoteriker durchgedrungen. Vielmehr dürfte es sich bei dieser Konferenz und ihren Wissenschaftlern und Spirituellen um eine eher kleine Minderheit handeln. Die meisten Spirituellen sind nach wie vor der Meinung, dass Rationalität und Intellektualität schändlich sind. Das gleiche glauben umgekehrt die konventionellen Wissenschaftler vom Bereich des Spirituellen. Man mag sich herausreden wie man will, wenn man sich an dem Begriff »schändlich« stört. Der blumigen Worte gibt es viele. Es ändert indes nichts am Tatbestand des unüberbrückten Widerspruchs.
Umso erleichternder zu hören, was diese excellenten Wissenschaftler nun dazu zu sagen hatten. Von der einen Seite kamen die Neurowissenschaftler und Gehirnforscher, die die eindeutige Wirksamkeit von Meditation auf das Gehirn und die Gesundheit des Menschen in immer mehr Studien nachweisen, von der anderen Seite die Philosophen, die mit bestechender Klarheit das metareflexive Bezugssystem der menschlichen Erkenntnis stellten.
Prof. Dr. Tania Singer, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Die Neurowissenschaftler sind zunächst klassische Forscher am Objekt. Meditierende wurden in zahlreichen Untersuchungen mittels der neuen bildgebenden Verfahren der funktionellen Kernspintomografie untersucht, und eindeutige Effekte konnten nachgewiesen werden. Diese neuen Verfahren erlauben mittlerweile einen qualitativen Sprung in der Forschung. In den 70er- und 80er-Jahren konnten derartige Effekte der Meditation mit dem EEG untersucht werden. Diese Messtiefe erwies sich jedoch als sehr unzureichend. Mit den Kernspinmethoden nun ist ein wesentlich tieferer Einblick direkt in die neuronalen Strukturen im Gehirn möglich. Heute kann man messen, welche Neuronen und welche Gehirnareale feuern, wenn ein Mensch denkt, fühlt oder handelt – oder eben meditiert. Die Zunahme der Erkenntnisse aus diesen Forschungen ist atemberaubend. Zugleich betonte Prof. Dr. Singer – für meine Begriffe die innovativste Forscherin in diesem Bereich -, dass die technischen Verfahren immer noch zu grob sind, um die elementaren Fragen nach der Wirkungsweise des Gehirns zu beantworten. Es ist noch nicht möglich, einzelne Neuronen optisch zu erkennen. Was die bildgebenden Verfahren jedoch schon gezeigt haben, ist eine wissenschaftliche Sensation: Die graue und weiße Gehirnmasse wächst bei regelmäßiger Meditation bzw. generell bei Gehirntraining. Die bisherige medizinische Schulmeinung war, dass das Gehirn nicht wachsen kann und die Anzahl der Neuronen konstant bleibt oder abnimmt. Aktuelle Forschungen zeigen jedoch, dass nicht nur die Anzahl der Verschaltungen, also der Dendriten, zunimmt, sondern dass offensichtlich auch neue Neuronen wachsen können, und das bis ins hohe Alter. Das Gehirn erweist sich zunehmend als flexibles, veränderbares System. Über seine komplexe Struktur kommen fortwährend neue Erkenntnisse zu tage und die anwesenden Neurowissenschaftler betonten in der der Wissenschaft eigenen Bescheidenheit, dass sie bis jetzt nur einen winzigen Bruchteil des Gesamtbildes erkennen und verstehen können.
Der Forschungsgegenstand der Meditation macht jedoch noch eine weitere, eine erkenntnistheoretische Problematik deutlich. Die rein objektive Beobachterperspektive der dritten Person stößt an seine Grenzen. Die anwesenden Wissenschaftler diskutierten deshalb, wie die Erhebung subjektiver Daten in die Forschung mit einzubringen sei, und wie auch die Subjektivität des Forschers umso mehr gefordert wird, je feinstofflicher die Ursachen der Wirkungen sind. Meditation kann Krankheiten wie Fybriomyalgie, Migräne oder Depressionen mit der gleichen Signifikanz lindern oder heilen wie pharmakologische Indikationen. Physiologische Prozesse wie Blutdruck oder Hormonspiegel sprechen auf Meditation oder – wie es nun diplomatisch heißt – Achtsamkeitstraining an. Wie kann aber Meditation oder Achtsamkeit mit herkömmlichen naturwissenschaftlichen Kategorien beschrieben werden? Es schreit förmlich nach einer Erweiterung der Forschungsparameter in die subjektive Sphäre. Nebenbei nur sei die Quantenphysik erwähnt, die diesen subjektiven Faktor von der Seite der Physik her schon lange ins Spiel bringt. Nun sind auch die Humanwissenschaften gefordert. Es war ein kleines, unscheinbares, aber doch ein symbolträchtiges Detail, wenn der gestandene Gehirnforscher Prof. Dr. Tobias Esch vom Neuroscience Research Institute der State University in New York seine Wortwahl dahingehend gewichtete, dass er sagte: »In der Stressregulation wird Dopamin ausgelöst«, anstatt, wie der rein reduktionistische Wissenschaftler sagen würde: »Das Dopamin löst die Stressregulation aus.« Das Hormon ist in Eschs Formulierung nicht mehr das Subjekt. Es ist nicht mehr die materielle Substanz, die unser Empfinden steuert. Das Dopamin wird gesteuert, von einem noch nicht näher definierten nicht-materiellen, subjektive Etwas.
Gerd Scobel (rechts), Moderator bei 3SAT. Links: Ulrich Schnabel, Wissenschaftsjournalist der ZEIT
Die Neurowissenschaft ist noch weit von der prima causa, der ersten Ursache, entfernt. Das ist auch ihrer intellektuellen Redlichkeit geschuldet. Sie macht sich zur Aufgabe, mit objektivierbaren Verfahren die Welt zu erforschen, und sie ist sich ihrer diesbezüglichen technischen Grenzen sehr wohl bewusst und hat auch keinerlei Anspruch, über das Objektivierte hinaus nicht bewiesenen Glauben oder Fürwahrhalten als verbindliche und verlässliche Erkenntnismodi zu reklamieren. Insofern macht sich die Wissenschaft keine Illusionen. Sie weiß, dass sie Theorien aufstellt. Und wie Sir Karl Popper so unnachahmlich formulierte: »Wir sind mit der Wirklichkeit in den Momenten in Kontakt, in denen unsere Theorien scheitern.« Der Wissenschaftler möchte die Wirklichkeit erkennen. Und wenn er dafür seine Theorie opfern muss, tut er dies liebend gerne. Der Wissenschaftler ist kein Dogmatiker. Er lebt von der Falsifizierung. Da hat er dem religiösen Eiferer sehr viel voraus, denn der wird seinen Glauben niemals aufgeben, und wenn alle Beweise dagegen sprechen.
Mit diesen Bemerkungen ist sodann die natürliche Überleitung zu dem philosophischen Teil der Konferenz gegeben.
Prof. Dr. Michael von Brück, Ludwig-Maximilians-Universität München, Interfakultärer Studiengang Religionswissenschaft (links) im Gespräch mit Ulrich Schnabel, Wissenschaftsjournalist der ZEIT
Der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Michael von Brück von der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der Philosoph und Direktor des Philosophischen Seminars der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Prof. Dr. Thomas Metzinger, schlugen die Brücke von der Wissenschaft zur Spiritualität. Sowohl Brück als auch Metzinger bestachen durch eine Klarheit der Kategorien, wie sie den objektiven Wissenschaftlern eigentlich den Atem verschlagen haben müsste. Natürlich kann ein Wissenschaftler annehmen, er sei ein objektiver Beobachter, der ein von ihm unabhängiges und getrenntes Objekt beobachtet und untersucht. Dies ist die Perspektive der 3. Person: »Er untersucht es.« (»Der Wissenschaftler untersucht das Forschungsobjekt.«) Er macht gleichsam naiv seine Forschungen mit Hilfe der technischen Möglichkeiten seines Wissenschaftsbereiches, um die eigene Sinneswahrnehmung zu erweitern. Er bleibt dabei in seinem streng umrissenen Aufgabenfeld, ohne die Gesamtperspektive der Wirklichkeit und ihrer Erkennbarkeit überhaupt anzutasten.
Die Philosophen hingegen diskutieren die Fragen nach der Erkenntnis überhaupt: »Wer untersucht?« und: »Wie erkennt dieser etwas?« Was ist Bewusstsein?
Thomas Metzinger eröffnete mit drei Thesen:
Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.
Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als Sonderfall der spirituellen Einstellung bezeichnen.
Es ist die gleiche normative Grundidee, auf der sich Wissenschaft und Spiritualität gründen.
Metzinger sprach keineswegs als Verteidiger der Religion. Religionen sind für ihn »adaptierte Wahnsysteme«, die lediglich Bewältigungsstrategien für die Angst vor dem Tod sind. Ahnenkult, Begräbnisrituale und Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod seien die Urgründe der Religionen, die die Angst vor dem Ende des Lebens vermeiden sollen. Insofern könne ein Philosoph oder ein an der Wahrheit interessierter Wissenschaftler sich solcher Ideologien und Dogmata nicht bedienen. Wir müssten uns vielmehr der Wahrheit stellen, dass wir sterblich sind. Wir wissen nichts über ein Leben nach dem Tod, entgegen aller anderslautenden Behauptungen.
Zentraler Forschungsgegenstand der Philosphie ist und war seit jeher auch die Kategorie Gottes. Metzinger betont, dass auch 4500 Jahre Philosophie und Religion keinen überzeugenden Gottesbeweis hervorgebracht haben. Jedoch ist er auch kein Agnostiker. Er zeigte auf: sowohl metaphysische Glaubensformen als auch die ideologischen Formen des Reduktionismus sind bestechlich. Wohingegen »Redlichkeit der semantische Kern eines philosophischen Begriffs der Philosophie ist«. Und er meinte damit Kants »Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein«. Das ist klar: wenn ich mich selbst oder andere belüge, kann ich weder philosophisch noch spirituell weiterkommen. Dann verharre ich in Täschung und Leugnung, was unweigerlich zum Untergang führt. Metzinger schlussfolgerte: Spiritualität und strenge Rationalität sind deckungsgleich. Intellektuelle Redlichkeit bedeute die Bereitschaft, sich nichts in die Tasche zu lügen. Intellektuelle Redlichkeit sei somit das, was Religionen nicht haben könnten. Das sei der bedingungslose Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis. Wer ganz werden wolle, müsse alle Konflikte zwischen seinem Handeln und seinem Werten auflösen, in einer Verbindlichkeit gegenüber sich selbst.
Metzinger meditiert nach eigenen Angaben seit 34 Jahren, und er ist auf der Suche nach einer säkularen Spiritualität, die nicht religiös eingebunden ist, sondern rein nach ihrer objektivierbaren Wirksamkeit bewertet wird. Damit trifft sich dann die Philosophie mit der naturwissenschaftlichen Erforschung der Meditation.
Brück sprach über den »Weltknoten« (Schopenhauer), die Beziehung zwischen Leib und Seele, die bei der Erforschung des Bewusstseins von entscheidender Bedeutung sei. Ist bewusstes Erleben nichts als ein Aspekt physiologischen Erlebens? Ist die Freiheit des Denkens und Wollens nur eine Illusion? Wie weit kann man das menschliche Gehirn mit einem Computer vergleichen? Kann man Gefühle messtechnisch abbilden? Hier seien wir in den Grenzbereichen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie.
Einen gewissen Diskussionsbedarf, der sich durch die ganze Konferenz zog, bildete naturgemäß das Verständnis davon, was Meditation überhaupt sei.
Video: Der Benediktiner-Mönch und Zen-Lehrer Willigis Jäger gibt eine Einführung in eine Meditation.
Die bisherigen neurophysiologischen Forschungen zur Meditation von Wolf und Tania Singer etwa, wie auch fast alle anderen diesbezüglichen Untersuchungen, erfolgten mit langjährigen Meditierenden aus der tibetisch-buddhistischen Tradition. Es ist dem Dalai Lama und seiner Aufgeschlossenheit für das westliche Denken zu verdanken, dass die spirituelle Praxis der Meditation heute in der Gehirnforschung eine Rolle spielt. Dies führt jedoch auch zu einer Einseitigkeit durch die fast ausschließlichen Rekrutierung der Probanden aus dem Buddhismus. Christliche Kontemplative waren, wie man hörte, bisher weniger aufgeschlossen für derartige Unterfangen. An andere Repräsentanten, etwa aus den schamanischen oder hinduistischen Traditionen, wurde anscheinend noch nicht groß gedacht.
Das wirft das Problem auf, dass die Frage nach dem Ich und mithin der Subjektivität in der Wissenschaft im buddhistischen Kontext der Ich-Losigkeit und Auflösung in die Leerheit nicht gerade der Klärung näher kommt. Es sei denn, man will sie erledigen, indem man sie als gegenstandslos erklärt, weil es das Ich ja eh nicht gibt.
Die Frage von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess der Wissenschaft und die Notwendigkeit einer spirituellen Antwort auf die Subjektivität rückt der Beantwortung näher, so Brück, wenn man nicht von einer Ich-Auflösung ins Unendliche, sondern von einer Ich-Integration im differenzierten Ganzen ausginge. Es gehe um eine Aufmerksamkeit, die nicht das Komplexe unterdrückt, sondern subtil vereint. Bewusstsein bildet sich selbst weiter aus, und es ist die Instanz, die das Wissen hervorbringt. Insofern muss man es selbst auch untersuchen.
Abschluss-Podiumsgespräch
Zu Beginn des Podiumsgespräch sagte der Moderator, Gerd Scobel, dass die Forschungsgelder für die Neurowissenschaft im letzten Jahrzehnt höher waren als die Gesamtinvestitionen in die bemannte Raumfahrt. Er sprach vom »decade of the brain«. Wir befinden uns also im Zeitalter der Gehirnforschung und es sei sensationell, dass nun auch die Meditation als ernsthafter wissenschaftlicher Forschungsgegenstand an Bedeutung gewinne. Was aber ist Meditation?
Video: Ein Gang durchs Publikum während der Pause.
Die Konferenz fand vom 26.-27.11.2010 in Berlin im Atrium der Deutschen Bank, Unter den Linden 13-15, statt.
Das Podium war sich einig, dass es weit mehr als Wellness oder Wohlfühlfaktor ist. Der Philosoph Brück definierte Meditation als »Aufmerksamkeit auf die eigenen Bewusstseinsvorgänge«.
Gerd Scobel thematisierte noch einmal die Frage nach den Gefühlen in den Wissenschaften und konstatierte eine Abneigung, ja bisweilen einen Hass gegen Gefühle. Tania Singer, die als Gehirnforscherin arbeitet, teilte mit, dass sich das gerade ändere. Überall publiziere man subjektive Daten. Eine adäquate introspektive Wissenschaft, also eine wissenschaftliche Beschreibung innerer Zustände, fehle aber noch. Sie stellte die subtile Frage: »Wie kann man Subjektivität in sein Korrelat in der Materie überführen?«, was wohl sagen will: Wie kann man Subjektivität messen? aber auch ein Licht auf die Idee wirft, die materielle Struktur könne ein Ausdruck, eine Entsprechung der spirituellen Subjektstruktur sein. Inwieweit der Neurowissenschaftlerin Singer diese philosophische Implikation bewusst ist, weiß ich nicht. Diese Formulierung zeigt jedoch, dass sich hier der strenge materialistische Reduktionismus auflöst und die kognitive Landkarte um die Kategorie des Subjekts erweitert wird. Eine Entwicklung, die mich mit der größten Erleichterung erfüllt, löst sich hier doch die gewalttätige, erdrückende Enge, der das fühlende Lebewesen als missachteter Gegenstand in der Wissenschaft bisher unterworfen war.
Video: Die Referenten kurz vor der Podiumsdiskussion. U.a. mit Prof. Dr. Thomas Metzinger, Philosophisches Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (am Ende des Films)
Singer merkte darüber hinaus an, dass es mit der introspektiven Herangehensweise nicht genug sei. Es gehe auch um interspektive Forschung, also um die Frage der Empathie und des Mitgefühls, um die neuronalen Korrelate von sozialen Prozessen. Es gebe eine emergente Qualität aus einer Gemeinschaft. Sie nannte es die Perspektive der 2. Person, in Ergänzung zur Diskussion um 1. und 3. Person-Perspektive. Tania Singer forscht derzeit an diesen Fragen. Die Untersuchungsergebnisse sind noch nicht veröffentlicht und wir dürfen gespannt sein. Hier dürften weitaus mehr Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Menschen und dem Sinn des Lebens verborgen sein, als in den toten materiellen oder den weltabgewandten spirituellen Angeboten.
Während der Grundfokus der anderen Naturwissenschaftler und auch der beiden Philosophen Brück und Metzinger eindeutig kognitiver, mentaler Natur war, brachte Tania Singer sowohl in Sachfragen als auch in ihrem persönlichen Auftritt die Emotionalität in den Vordergrund. Lag das vielleicht daran, dass sie eine Frau ist?
Paul J. Kothes (re.) im Gespräch mit Gerd Scobel und Dr. Nadja Rossmann
Paul Kothes, in der buddhistischen Tradition geschult, votierte dafür, sich von allen diesen Dingen wie Emotionen zu lösen. Es ginge um eine Disziplin der Selbstdistanz. Diese Distanz müsse gnadenlos bis zum Ende geführt werden. Das sei die meditative Erfahrung.
Dr. med. Edda Gottschaldt von der Oberberg Stiftung meldete sich mit dem Hinweis, dass sie als Ärztin an einer psychosomatischen Klinik für Sucht und Persönlichkeitsstörungen in der Meditation und in der Frage der Gefühle die praktische Seite vertrete. Es ginge um die Anerkennung dessen, was ist. Unangenehme Dinge gelte es anzuschauen, sonst machen sie uns krank. Annehmen, dann loslassen, so könne Heilung geschehen. Das sei die Entwicklungsdynamik, es gehe nicht um Wellness. So könne man zu einer nüchternen Erkenntnis der Welt kommen. Man gehe aus der Wertung heraus und nehme die Welt so, wie sie ist.
Metzinger meditiere seit 34 Jahren und erführe die Achtsamkeit als präzise und sanft. Präzise könne er gut, sagte er Tania Singer augenzwinkernd zugewandt als Antwort auf ihre Kritik an der Denklastigkeit seiner Philosophie, und gab als Philosoph zu, Meditation als eine Form der Erkenntnis zu erfahren, die nicht auf wahren Sätzen beruht. Sie sei eine zweite Form der Erkenntnis und er wisse selbst nicht, wie er diese Erkenntnis erklären soll. Er führte den Begriff der »nullten Perspektive« in die Diskussion ein. Es gehe nicht um ein subjektives Erleben, sondern um ich-lose Zustände. Er stellte aber zugleich die Frage, wie könne die Erinnerung an diese ich-losen Zustände zu einem Teil seines autobiografischen Gedächtnisses werden, wenn er selbst in diesem Zustand garnicht da war? Philosophische Raffinesse mit selbstironischem Unterton.
Ein weiterer Diskussionspunkt waren die Risiken und Nebenwirkungen von Meditation. Instabilen Gemüter könne sie durchaus zu psychischen Problemen gereichen. Klar, dass hier Vorsicht geboten ist.
Matthias von Brück und Thomas Metzinger vertraten durchaus kontroverse Positionen und von Brück widersprach der Säkularisierung von Spiritualität, wie sie Metzinger in seinem Vortrag forderte. Es gehe nicht darum, etwas zu säkularisieren, sondern darum, die Institutionalisierungsprozesse zu dekonstruieren. Es reiche nicht aus, den katholischen Pabst durch einen Literaturpabst oder einen Börsenpabst zu ersetzen. Brück sieht in der Spiritualität die Möglichkeit, uns ein Menschenbild an die Hand zu geben, mit dem wir uns selbst ändern können. Diese Möglichkeit der Selbstveränderung wurde im institutionalisierten Christentum durch die Sündenlehre verschüttet. Dass wir uns selbst steuern und lernen, wie wir mit uns selbst umgehen, sei der Gewinn der Meditation.
Wie sieht eine kommende Bewusstseinskultur aus?, fragte der Moderator Scobel. Metzinger schlug eine ideologiefreie Form der Meditationsausbildung in Schulen vor. Brück hielt dagegen, nur Meditation in ein problematisches Schulsystem einzuführen, sei nicht geeignet und helfe bestenfalls, dass die Schüler erst nach dem Schultag zusammenbrechen anstatt schon währenddessen. Besser sei es, pluralistische Prozesse voranzubringen, damit sich das von der Basis her verändert.
Kothes gab zu bedenken, dass echte Meditation nicht systemkompatibel sei. Das System werde es nicht annehmen. Klüger sei es, dass sich zunächst ein Feld formt, aus dem sich von unten nach oben etwas entwickelt.
Am Ende stand eine schöne Destillation: »Achtsamkeit ist die Pforte des Menschen zu sich selbst.«
Video: Abschlussmeditation mit einem Mantra-Gesang.
Alles in Allem wurden die essentiellen Fragen des Menschen gestellt, Spiritualität und Wissenschaft rückten ein gehöriges Stück zusammen, und es wurde ein Horizont sichtbar, an dem ein neues integriertes Verständnis von Welt, Mensch und Gott heraufdämmert. Der Kongress endete mit einem achtminütigen Mantra-Gesang. Die Wissenschaftler und das Publikum schlossen die Augen und meditierten nocheinmal gemeinsam. Es war für mich spürbar, wie die spirituelle Energie anstieg, wie sich Ruhe und innerer Frieden in mir einstellten. Glücklich und zufrieden, emotional, kognitiv und spirituell gesättigt, ging ich mit Freunden in die nahegelegene Pizzeria, um mit der körperlichen Sättigung den Tag zu beschließen.
Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum ZieI gesetzt werden. Historisch Gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende. Darum kann die Ordnung des Profanen nicht am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut werden, darum hat die Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs „Geist der Utopie“. Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen lässt. Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt errichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt. – Während freilich die unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des innern einzelnen Menschen durch Unglück im Sinne des Leidens hindurchgeht. Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat.
Viele Menschen leben in einem Paradigma, demzufolge es irgendwie das Ziel ist, vollkommen zu sein oder zu werden. Vollkommenheit wird als gut bewertet, Unvollkommenheit als schlecht. Es gilt irgendwie, zu dieser Vollkommenheit zu gelangen.
Die Wege dahin lassen sich im Großen und Ganzen in zwei unterschiedliche Herangehensweisen unterscheiden:
a) Ich ändere mich, also meine Realität.
b) Ich ändere meine Definition von Vollkommenheit, also die Wahrnehmung meiner Realität.
Die Menschen in diesem Paradigma leiden sehr unter der Vorstellung, nicht vollkommen zu sein. Sie sagen zum Beispiel: „Wie soll ich ein Ebenbild Gottes sein, wenn ich nicht vollkommen bin?“
Da aus dieser Bewertung jedoch ein Schmerz über die eigene Unvollkommenheit entsteht, wird zu der Idee Zuflucht genommen, das ich jetzt und hier schon vollkommen bin, so wie ich bin. Damit wird das Problem aus der Realität (a) in die Wahrnehmung der Realität (b) verlagert. Es ist nur noch eine Frage der Definition. Es ist dann ein Denkfehler, wenn ich mich für unvollkommen halte. In dem Moment, wo ich erkenne, dass ich ja schon vollkommen bin, ist alles gut. Das Problem ist gelöst. Das ist Konstruktivismus.
c) Beide Lösungswege sind disfunktional. Das Problem löst sich in der Annahme der Tatsache, das wir unvollkommen sind und das ist gut so. Es ist einfach die Wahrheit. Wir sind unvollkommen.
zu a)
Dies ist die klassische Version des Paradigmas. Wir sind so, wie wir sind, nicht in Ordnung und müssen besser werden. Es gibt ein Ideal, eine Vollkommenheit, und wir sind selbst noch nicht dort. Wir „sollen“ oder „müssen“ anders werden, uns ändern, uns verbessern.
Hier werden z.b. niederes und höheres Selbst unterschieden, oder das Ego und das absolute Selbst. Das Niedere ist das Schlechte, das Höhere ist das Gute. Es ist die Vorstellung der klassischen Religionen, dass wir ein echtes, wahres, absolutes Selbst haben, das nicht von irdischen Dingen verunreinigt ist, frei von Sünden (der Westen, Christentum, Islam, Judentum) oder frei von Illusionen (der Osten, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Dies steht dem niederen, falschen, relativen Selbst, dem Ego, gegenüber. Dieses niedere Selbst ist die Ursache von Leiden, Sünden, Illusionen, und dieses gilt es auszumerzen oder zu transformieren. Das ist der Weg vom Real zum Ideal, vom Relativen zum Absoluten, vom Schlechten zum Guten, vom Falschen zum Richtigen, vom Sündigen zum Heiligen usw.
zu b)
Immer wieder kommt es vor, dass manchen Menschen klar wird, dass mit dieser Denkweise etwas nicht stimmt. Wir können das Ideal niemals erreichen, wir können niemals diese Vollkommenheit, diese Heiligkeit, diese permanente, absolute, immerwährende, perfekte Erleuchtung oder Erlösung erreichen. Wir sind immer wieder in dem Jammertal gefangen, in der irdischen Relativität, in den Fehlern, Schwächen, Unvollkommenheiten.
Hier setzt die Veränderung der Wahrnehmung der Realität an. Wenn ich schon nicht meine Realität nachhaltig ändern kann – die Tatsache, dass ich unvollkommen bin -, dann ändere ich eben die Definition davon, was vollkommen ist. Wir erkennen, dass viele negative Bewertungen von Dingen oder Handlungen geschlossene Symbole sind, d.h. viele Negationen sind konventionelle Tabus, die uns mehr Leiden verursachen, als sie uns vor Leiden schützen. Zum Beispiel wurde jahrhundertelang die Sexualität tabuisiert, um die Bevölkerung vor unerwünschter Nachkommenschaft und Geschlechtskrankheiten zu schützen. Zugleich führte diese Tabuisierung zu zahlreichen neurotischen und psychotischen Problemen. Jetzt wird die Sexualität zunehmend enttabuisiert, d.h. in eine positiven Wertung gesetzt, in der Hoffnung, dadurch eine Abnahme des Leids zu erreichen.
Diese alle Gebiete betreffende Änderung der Wahrnehmung der Realität führt jedoch zu einer inflationären Verrohung und Demoralisierung der Gesellschaft. „Anything goes“, „alles kann, nichts muss“ sind Slogans dieser Variante des Paradigmas. Es wird einfach gesagt, jeder kann machen, was er will, das ist okay so. Es gibt keinerlei moralische Maßstäbe mehr, jeder ist frei, sich auszuleben, egal wie – außer er verletzt andere auf physische Weise. Ich bin so okay, wie ich bin. In diesen Gedankengängen liegt ein Teil Wahrheit und ein Teil Leugnung.
Die Wahrheit ist, ich bin der, der ich bin. Die Leugnung ist, dass das so vollkommen ist.
zu c)
Ich bin der, der ich bin, mit all meinen Fehlern, Schwächen und Unvollkommenheiten. Und das ist gut so. Ich bin nicht vollkommen.
Die Selbstgeißelung und Selbstverachtung hört in dem Moment auf, wo ich das Dogma aufgebe, dass das Vollkommene das Gute und das Unvollkommene das Schlechte ist. Wenn ich verstehe, dass es menschlich ist, unvollkommen zu sein, dass es meine Natur ist, unvollkommen zu sein, und dass das nicht schlecht, sondern geradezu gut so ist, dann kann ich meine Unvollkommenheit annehmen. Ich muss die Wahrnehmung der Realität nicht mehr manipulieren und komme so raus aus der Leugnung.
Ich werde authentisch in dem Sinne, dass ich, wenn ich gebrochen oder unvollkommen bin, auch in meiner Gebrochenheit und Unvollkommenheit authentisch bin. Ich bin der, der ich bin. Egal, ob das in irgendeinem von Menschen gemachten Glaubenssystem gut oder schlecht ist.
Aus dieser Annahme meiner Unvollkommenheit gehen Ehrlichkeit, Demut, Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur Veränderung hervor. Ich bin mir meiner Machtlosigkeit und meiner Unvollkommenheit bewusst und dadurch offen für eine Veränderung, die nicht aus meiner Macht und meinem Eigenwillen hervorgebracht wird, sondern von außen kommt. Und hier wird der Raum für eine Höhere Macht, für Gott, geöffnet.
Gott ist der einzige Vollkommene. Hier hat die Vollkommenheit ihren Ort. Aber wir sind nicht Gott. Das ist einfach so. Es gibt Gott. Aber ich bin es nicht. Das ist axiomatisch. Aus dieser Unterscheidung emaniert die Wahrnehmung der Realität so wie sie ist (und nicht unsere manipulierte Wahrnehmung der Realität), sowie die Möglichkeit der realen Veränderung. Reale Veränderung ist immer heterogen, d.h. sie erwächst nicht aus dem Gleichen, was das Leiden oder die Krankheit erwachsen lässt. Sie muss von woanders kommen, etwas neu schaffen, eben verändern.
Es kann sein, dass „Gott“ eine Setzung ist, die für unser Innerstes steht, das uns selbst transzendental ist. Es kann sein, dass wir in Wahrheit Gott – oder in Gott – sind. Aber in unserem jetzigen Zustand des von der Vollkommenheit entfernten Seins sind wir eben nicht Gott. Und es hilft nicht, den Kurzschluss zu machen, die Unvollkommenheit einfach zur Vollkommenheit zu erklären (Variante b).
Es hilft auch nicht, den unvollkommenen Zustand abzulehnen, zu negieren, also als schlecht zu bewerten (Variante a), womit wir uns in die Gut-Schlecht-Dualität verstricken und eine fremdgesteuerte, unbewusste Form der Wertung anwenden.
Die Annahme der Unvollkommenheit als Wie-es-ist (c) ist im Grunde eine wertfreie Sicht. Unvollkommenheit ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach. Aber dadurch, dass sie als Wie-es-ist gesehen wird, existiert sie unbekämpft und unnegiert. Damit erhält sie ein Position, d.h. sie wird positiv. Jedes Sein ist eine Position, d.h. ist in und an sich gut. Das ist der Unterschied zwischen der Negation und der Position. Position ist, Negation ist nicht.
In der ehrlichen Annahme-was-ist gründet sich damit nicht eine wertlose Beliebigkeit oder eine beliebige Wertung, die abstrakt alles erlaubt ohne eine moralische Bewertung möglich zu machen, sondern eine natürliche Ordnung der Dinge, die zum Leben strebt, zum Lebensförderlichen, was immer auch eine Veredelung ist.
Indem wir uns so unvollkommen annehmen, wie wir sind, können wir die werden, die wir sein wollen. Der archimedische Punkt ist die Authentizität in der radikalen Annahme dessen was ist. Dies ist der Kammerton A, die Wahrheit unserer Seele hier und jetzt, mit allen Schmerzen, aller Angst, aller Wut, aller Freude und aller Liebe, die da sind und echt sind. An diesem Punkt ist Veränderung möglich (c). Nicht in der Herausstellung eines Ideals oder einer Vollkommenheit, wo wir nicht sind und die wir werden sollen (a) oder die wir vorgeben zu sein (b).
Diese natürliche Ordnung der Dinge, die sich daraus ergibt, ist die Ordnung des Lebens selbst, letztlich die Ordnung Gottes. Sie hat nichts mit von Menschen erdachten Ordnungen und Kontrollstrategien zu tun.
Sie ist keine Ordnung im ordentlich-moralischen Sinne, denn sie enthält ebenso die Unvollkommenheit, das Chaos, das Leiden, den Schmutz, die Zerstörung und den Tod. Denn dies gehört alles zum Leben dazu. Das ist nicht schlecht. Das ist.
»Wir werden nicht vollkommen werden. Wären wir vollkommen, so wären wir nicht menschlich.« NA-Basic Text, S. 38
»Für Menschen ist Vollkommenheit unerreichbar – sie ist kein realistisches Ziel. Was wir häufig in der Vollkommenheit suchen, ist Freiheit von dem Unbehagen, das wir angesichts unser Fehler spüren. Für diese Freiheit von Unbehagen tauschen wir unsere Neugierde, unsere Flexibilität und unseren Spielraum für Wachstum ein.« NA-Nur für heute, S. 331 (13.11.)