Zur Theorie der Vollkommenheit
Viele Menschen leben in einem Paradigma, demzufolge es irgendwie das Ziel ist, vollkommen zu sein oder zu werden. Vollkommenheit wird als gut bewertet, Unvollkommenheit als schlecht. Es gilt irgendwie, zu dieser Vollkommenheit zu gelangen.
Die Wege dahin lassen sich im Großen und Ganzen in zwei unterschiedliche Herangehensweisen unterscheiden:
a) Ich ändere mich, also meine Realität.
b) Ich ändere meine Definition von Vollkommenheit, also die Wahrnehmung meiner Realität.
Die Menschen in diesem Paradigma leiden sehr unter der Vorstellung, nicht vollkommen zu sein. Sie sagen zum Beispiel: „Wie soll ich ein Ebenbild Gottes sein, wenn ich nicht vollkommen bin?“
Da aus dieser Bewertung jedoch ein Schmerz über die eigene Unvollkommenheit entsteht, wird zu der Idee Zuflucht genommen, das ich jetzt und hier schon vollkommen bin, so wie ich bin. Damit wird das Problem aus der Realität (a) in die Wahrnehmung der Realität (b) verlagert. Es ist nur noch eine Frage der Definition. Es ist dann ein Denkfehler, wenn ich mich für unvollkommen halte. In dem Moment, wo ich erkenne, dass ich ja schon vollkommen bin, ist alles gut. Das Problem ist gelöst. Das ist Konstruktivismus.
c) Beide Lösungswege sind disfunktional. Das Problem löst sich in der Annahme der Tatsache, das wir unvollkommen sind und das ist gut so. Es ist einfach die Wahrheit. Wir sind unvollkommen.
zu a)
Dies ist die klassische Version des Paradigmas. Wir sind so, wie wir sind, nicht in Ordnung und müssen besser werden. Es gibt ein Ideal, eine Vollkommenheit, und wir sind selbst noch nicht dort. Wir „sollen“ oder „müssen“ anders werden, uns ändern, uns verbessern.
Hier werden z.b. niederes und höheres Selbst unterschieden, oder das Ego und das absolute Selbst. Das Niedere ist das Schlechte, das Höhere ist das Gute. Es ist die Vorstellung der klassischen Religionen, dass wir ein echtes, wahres, absolutes Selbst haben, das nicht von irdischen Dingen verunreinigt ist, frei von Sünden (der Westen, Christentum, Islam, Judentum) oder frei von Illusionen (der Osten, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Dies steht dem niederen, falschen, relativen Selbst, dem Ego, gegenüber. Dieses niedere Selbst ist die Ursache von Leiden, Sünden, Illusionen, und dieses gilt es auszumerzen oder zu transformieren. Das ist der Weg vom Real zum Ideal, vom Relativen zum Absoluten, vom Schlechten zum Guten, vom Falschen zum Richtigen, vom Sündigen zum Heiligen usw.
zu b)
Immer wieder kommt es vor, dass manchen Menschen klar wird, dass mit dieser Denkweise etwas nicht stimmt. Wir können das Ideal niemals erreichen, wir können niemals diese Vollkommenheit, diese Heiligkeit, diese permanente, absolute, immerwährende, perfekte Erleuchtung oder Erlösung erreichen. Wir sind immer wieder in dem Jammertal gefangen, in der irdischen Relativität, in den Fehlern, Schwächen, Unvollkommenheiten.
Hier setzt die Veränderung der Wahrnehmung der Realität an. Wenn ich schon nicht meine Realität nachhaltig ändern kann – die Tatsache, dass ich unvollkommen bin -, dann ändere ich eben die Definition davon, was vollkommen ist. Wir erkennen, dass viele negative Bewertungen von Dingen oder Handlungen geschlossene Symbole sind, d.h. viele Negationen sind konventionelle Tabus, die uns mehr Leiden verursachen, als sie uns vor Leiden schützen. Zum Beispiel wurde jahrhundertelang die Sexualität tabuisiert, um die Bevölkerung vor unerwünschter Nachkommenschaft und Geschlechtskrankheiten zu schützen. Zugleich führte diese Tabuisierung zu zahlreichen neurotischen und psychotischen Problemen. Jetzt wird die Sexualität zunehmend enttabuisiert, d.h. in eine positiven Wertung gesetzt, in der Hoffnung, dadurch eine Abnahme des Leids zu erreichen.
Diese alle Gebiete betreffende Änderung der Wahrnehmung der Realität führt jedoch zu einer inflationären Verrohung und Demoralisierung der Gesellschaft. „Anything goes“, „alles kann, nichts muss“ sind Slogans dieser Variante des Paradigmas. Es wird einfach gesagt, jeder kann machen, was er will, das ist okay so. Es gibt keinerlei moralische Maßstäbe mehr, jeder ist frei, sich auszuleben, egal wie – außer er verletzt andere auf physische Weise. Ich bin so okay, wie ich bin. In diesen Gedankengängen liegt ein Teil Wahrheit und ein Teil Leugnung.
Die Wahrheit ist, ich bin der, der ich bin. Die Leugnung ist, dass das so vollkommen ist.
zu c)
Ich bin der, der ich bin, mit all meinen Fehlern, Schwächen und Unvollkommenheiten. Und das ist gut so. Ich bin nicht vollkommen.
Die Selbstgeißelung und Selbstverachtung hört in dem Moment auf, wo ich das Dogma aufgebe, dass das Vollkommene das Gute und das Unvollkommene das Schlechte ist. Wenn ich verstehe, dass es menschlich ist, unvollkommen zu sein, dass es meine Natur ist, unvollkommen zu sein, und dass das nicht schlecht, sondern geradezu gut so ist, dann kann ich meine Unvollkommenheit annehmen. Ich muss die Wahrnehmung der Realität nicht mehr manipulieren und komme so raus aus der Leugnung.
Ich werde authentisch in dem Sinne, dass ich, wenn ich gebrochen oder unvollkommen bin, auch in meiner Gebrochenheit und Unvollkommenheit authentisch bin. Ich bin der, der ich bin. Egal, ob das in irgendeinem von Menschen gemachten Glaubenssystem gut oder schlecht ist.
Aus dieser Annahme meiner Unvollkommenheit gehen Ehrlichkeit, Demut, Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur Veränderung hervor. Ich bin mir meiner Machtlosigkeit und meiner Unvollkommenheit bewusst und dadurch offen für eine Veränderung, die nicht aus meiner Macht und meinem Eigenwillen hervorgebracht wird, sondern von außen kommt. Und hier wird der Raum für eine Höhere Macht, für Gott, geöffnet.
Gott ist der einzige Vollkommene. Hier hat die Vollkommenheit ihren Ort. Aber wir sind nicht Gott. Das ist einfach so. Es gibt Gott. Aber ich bin es nicht. Das ist axiomatisch. Aus dieser Unterscheidung emaniert die Wahrnehmung der Realität so wie sie ist (und nicht unsere manipulierte Wahrnehmung der Realität), sowie die Möglichkeit der realen Veränderung. Reale Veränderung ist immer heterogen, d.h. sie erwächst nicht aus dem Gleichen, was das Leiden oder die Krankheit erwachsen lässt. Sie muss von woanders kommen, etwas neu schaffen, eben verändern.
Es kann sein, dass „Gott“ eine Setzung ist, die für unser Innerstes steht, das uns selbst transzendental ist. Es kann sein, dass wir in Wahrheit Gott – oder in Gott – sind. Aber in unserem jetzigen Zustand des von der Vollkommenheit entfernten Seins sind wir eben nicht Gott. Und es hilft nicht, den Kurzschluss zu machen, die Unvollkommenheit einfach zur Vollkommenheit zu erklären (Variante b).
Es hilft auch nicht, den unvollkommenen Zustand abzulehnen, zu negieren, also als schlecht zu bewerten (Variante a), womit wir uns in die Gut-Schlecht-Dualität verstricken und eine fremdgesteuerte, unbewusste Form der Wertung anwenden.
Die Annahme der Unvollkommenheit als Wie-es-ist (c) ist im Grunde eine wertfreie Sicht. Unvollkommenheit ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach. Aber dadurch, dass sie als Wie-es-ist gesehen wird, existiert sie unbekämpft und unnegiert. Damit erhält sie ein Position, d.h. sie wird positiv. Jedes Sein ist eine Position, d.h. ist in und an sich gut. Das ist der Unterschied zwischen der Negation und der Position. Position ist, Negation ist nicht.
In der ehrlichen Annahme-was-ist gründet sich damit nicht eine wertlose Beliebigkeit oder eine beliebige Wertung, die abstrakt alles erlaubt ohne eine moralische Bewertung möglich zu machen, sondern eine natürliche Ordnung der Dinge, die zum Leben strebt, zum Lebensförderlichen, was immer auch eine Veredelung ist.
Indem wir uns so unvollkommen annehmen, wie wir sind, können wir die werden, die wir sein wollen. Der archimedische Punkt ist die Authentizität in der radikalen Annahme dessen was ist. Dies ist der Kammerton A, die Wahrheit unserer Seele hier und jetzt, mit allen Schmerzen, aller Angst, aller Wut, aller Freude und aller Liebe, die da sind und echt sind. An diesem Punkt ist Veränderung möglich (c). Nicht in der Herausstellung eines Ideals oder einer Vollkommenheit, wo wir nicht sind und die wir werden sollen (a) oder die wir vorgeben zu sein (b).
Diese natürliche Ordnung der Dinge, die sich daraus ergibt, ist die Ordnung des Lebens selbst, letztlich die Ordnung Gottes. Sie hat nichts mit von Menschen erdachten Ordnungen und Kontrollstrategien zu tun.
Sie ist keine Ordnung im ordentlich-moralischen Sinne, denn sie enthält ebenso die Unvollkommenheit, das Chaos, das Leiden, den Schmutz, die Zerstörung und den Tod. Denn dies gehört alles zum Leben dazu. Das ist nicht schlecht. Das ist.
»Wir werden nicht vollkommen werden. Wären wir vollkommen, so wären wir nicht menschlich.« NA-Basic Text, S. 38
»Für Menschen ist Vollkommenheit unerreichbar – sie ist kein realistisches Ziel. Was wir häufig in der Vollkommenheit suchen, ist Freiheit von dem Unbehagen, das wir angesichts unser Fehler spüren. Für diese Freiheit von Unbehagen tauschen wir unsere Neugierde, unsere Flexibilität und unseren Spielraum für Wachstum ein.« NA-Nur für heute, S. 331 (13.11.)
ein schöner artikel…sich nach vollkommenheit sehnende menschen erreichen sicher auch die phase des sich als unvollkommen vollkommen anzunehmen…aber was passiert mit menschen,die frei ihren willen tun ohne jemals die sehnsucht der vollkommenheit gehabt zu haben?
ist sie nicht eine besondere kraft,diese sehnsucht nach ihr? und haben es nicht sogar einige ganz besondere menschen nahezu geschafft vollkommen zu sein? und wie bereichernd und beglückend für uns ist es sie zu lesen,bilder von ihnen zu betrachten,ihren tönen zu lauschen,
zieht uns nicht das geheimnis um ihre vollkommenheit an?
ich bin mir einfach immer und immer noch nicht sicher….;-)
Hallo Betina,
ja, es ist die Frage, ob es diese Vollkommenheit bei Menschen gibt. Es gibt sicherlich diese Idee der Vollkommenheit. Und manche Menschen sind näher dran. Manche sind einfach glücklicher. Manche sind unschuldiger. Manche sind unwissend glücklich. Es gibt ja diese Geschichte vom Paradies. Seit wir vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen haben, sind wir aus dem Paradies rausgefallen. Hier habe wir die Wertung an uns genommen, die eigentlich den Göttern vorbehalten war. Seitdem geht es uns schlecht und wir halten uns für mangelhaft. Wir sind einerseits garnicht mangelhaft, andererseits doch. Wir haben Fehler. Aber es ist nicht von Grund auf schlecht oder böse, wenn wir diese Fehler haben. Wären wir vollkommen, wären wir keine Menschen. Es ist halt so. Und dennoch gibt es diese Tendenz der Veredelung. Die ist im Leben selbst angelegt. Und das ist das, wo wir auf Gott zu streben. Denn Gott ist vollkommen. Sicherlich gibt und gab es Menschen, die so nah bei Gott sind/waren, dass sie uns schon göttlich erscheinen.
Aber es scheint mir einen Grund zu haben, warum es uns Menschen gibt, und warum wir uns von einem unvollkommenen Zustand zu einer Vervollkommnung entwickeln. Warum wir also unvollkommen sind.
Was ist wenn wir schon sind was wir sein wollen? Ist es so, dass wir getrennt vom All-Eins sind? Wenn wir alle EINS sind was hat das dann für Konsequenzen? Längst angekommen vergleichen wir immer noch das SEIN mit dem HABEN-sollen-wollen. Konzepte begrenzen unsere Wahrnehmungsfähigkeit, filtern aus und haben nur eine bedingte Gültigkeit in Zeit und Raum.
Hallo Roland,
wir sind der, der wir sind. dann können wir werden, wer wir sein wollen. es geht mir um diesen archimedischen Punkt des ehrlichen Wie-es-ist. ein wichtiger Abschnitt aus dem Blog „Authentizität“:
„Es geht erstmal um das Erkennen, was ist. Viele Leute sagen: „Ich bin authentisch, wenn ich ganz bin. In meiner Ganzheit bin ich authentisch.“ Aber das ist Ideologie. Wenn ich tatsächlich ganz bin, bin ich in dieser Ganzheit authentisch. Aber wenn ich gebrochen bin, bin ich in dieser Gebrochenheit authentisch. Die Energie zum Wachstum erwächst aus dieser Authentizität. Es ist egal, ob das gut oder schlecht in irgendeinem Glaubenssystem ist. Ein Glaubenssystem wäre zum Beispiel: „Ganzheit ist gut. Gebrochenheit ist schlecht.“ Meine Bewegung hin zum Ganzsein kommt durch das Erkennen, dass ich ein zerbrochener Mensch bin.“
Falls du meinst, dass wir schon ganz sind und es nur noch nicht merken, kann ich dir nicht zustimmen. Das wäre in meiner Betrachtung die Variante b) – das Anpassen der Wahrnehmung der Realität. Ich weiß, das ist die Ansicht vieler spiritueller Wege, vorwiegend des Advaita und Satsang, teilweise auch des Buddhismus in manchen modernen Varianten. Aber ich halte das für falsch.
Mir erschließt sich beim Lesen spiritueller Texte, bzw. beim Folgen menschlicher Gedankenprozesse zunehmend die Erkenntnis: Spiritualität ist das Streben nach Weisheit. Ich bin dabei wiederholt einem Gefühl von Skepsis begegnet, weil ich denke, dass vielen Menschen kaum bewusst ist, dass sie stark darin sind, gewisse Glaubenssätze und Theorien zu vermitteln, etwas zu lehren, ihnen die eigene Umsetzung, das persönliche Handeln, das Leben danach aber doch schwer fällt. Worauf ich hinaus möchte ist: ich habe bei mir selbst erlebt, dass ich Gefahr lief, vielmehr einem dieser an und für sich wunderbaren Leitsätze zu folgen, dabei aber nicht mehr erkennen zu können, welche Gedanken und Gefühle denn eigentlich meine sind. Zum Kernpunkt: Es geht um Authentizität, darum, durchaus etwas zu lernen und für sich mitzunehmen, sich selbst dabei aber treu zu bleiben. Die Gedanken des Menschen, bei dem ich eben diese Erkenntnisse gewonnen habe, sind folgende: Vollkommenheit ist zu erkennen, dass wir nicht vollkommen sind. Vollkommenheit meint meist einen Zustand von Perfektion. Doch was dann? Was soll noch kommen, wenn dieser Zustand erreicht ist? Vollkommenheit ist Stillstand, aber wir sind immer in Bewegung, in Veränderung. Vollkommenheit bedeutet also, jede Veränderung in uns anzunehmen und uns nicht nach etwas zu richten, was andere von uns erwarten.
Bisher waren es für mich kaum mehr als weise Worte, doch ich erlebe, wie ich sie immer mehr … erfassen, begreifen und in mir spüren kann.