Philosophie

Woher kommt das Recht?

Die Rede des Papstes vor dem Bundestag

Woher wissen wir, was gut und was böse ist? Wie setzen wir das Recht?

Rechtsphilosophie halte ich für eines der spannendsten Themen im Bereich Menschheit. Sie verschränkt die höchsten spirituellen Prinzipien mit dem existentiellen irdischen Leben. Wie können wir Gerechtigkeit erfahren? Wie regeln wir den gesellschaftlichen Umgang der Menschen untereinander?

In früheren Zeiten wurde das Recht von der Religion abgeleitet. Heutzutage ist dieser Bezugspunkt nicht mehr gebräuchlich und es stellt sich die Frage: Woher leiten wir jetzt das Recht ab?

Papst Benedikt hat dazu eine kurze, aber ungemein dichte Rede gehalten, die den Dingen auf den Grund geht und die Unreduzierbarkeit einer Anbindung ans Spirituelle auf ziemlich elegante und geschickte Art und Weise argumentiert.

Er leitete seine Rede mit einem schönen Beispiel ein. König Salomon wurde bei seiner Thronbesteigung von Gott eine Bitte freigestellt. Was erbat sich Salomon? Kein Geld, kein Erfolg, keine Macht. Er bat um ein „hörendes Herz“, damit er sein Volk regieren und Gut von Böse unterscheiden könne.

Der Papst argumentiert, dass es die Aufgabe des Politikers sei, nicht nach Erfolg oder materiellem Gewinn zu streben, sondern „dem Recht zu dienen“. Doch woher wissen wir, was Recht ist. Meist reiche die Mehrheit aus, aber es gäbe auch „Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit“ geht. Zu Recht weist der Papst auf ein Beispiel hin, wo in einem Unrechtsstaat der Widerstand zur Pflicht wird (Origenes, 3. Jh. n. Chr. über den Widerstand der Christen gegen die Skyten), und stellt auch die Widerstandskämper im Naziregime in diese Reihe. Hier greift das Recht der Mehrheit nicht mehr.

Die Quelle bei Origenes spricht vom „Gesetz der Wahrheit“. Aber was das sei, liege nicht so einfach zu Tage und sei nicht evident. Gerade in heutiger Zeit seien „die grundlegenden anthropologischen Fragen“ keineswegs geklärt. Es verliere sich vielmehr der geistige Bezug, da die moderne Philosophie und Wissenschaft rein positivistisch ausgerichtet sei. Positivismus besagt, dass nur das Funktionale und Messbare wirklich existiert. Man hält sich an das materiell Gegebene, das was in wissenschaftlichen Untersuchungen – im Prinzip in Messungen – einen positiven Befund zeigt, also „vorhanden“ ist. Positiv meint hier nicht das wertende „gut“, sondern das bloße Vorhandensein, vgl. „HIV positiv“. HIV-positiv bedeutet nicht, dass HIV gut ist, sondern dass jemand das Virus hat. Von einer lebensförderlichen Ethik her betrachtet ist „HIV positiv“ schlecht und „HIV negativ“ ist gut, weil HIV eine tödliche Krankheit ist und es gut ist, wenn man diese Krankheit nicht hat. In diesem Fall ist auch Zerstörung gut, nämlich dann wenn die Viren zerstört werden.

Zurück zur Papst-Rede. Früher sei das Recht in der Regel religiös auf göttliche Offenbarung begründet gewesen. Das Christentum habe auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen, „auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“ Die christlichen Theologen hätten sich „gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt.“ Benedikt führt mit diesem Passus die Kategorie des „Gewissens“ ein. Leider wird für mein Verständnis nicht klar, wie er dazu kommt (vielleicht ist das einfach der Kürze des Traktats geschuldet). Das Gewissen sei das hörende Herz Salomons, „die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft“. Das Gewissen ist also die menschliche Stimme der Vernunft. Dieses Gewissen hätte uns auch durch die Zeit der Aufklärung, der Erklärung der Menschenrechte und der Gestaltung unseres Grundgesetzes getragen. Mittlerweile sei jedoch eine dramatisch veränderte Situation eingetreten.
Durch den Siegeszug des Positivismus sei der Bezug des Seins zum Sollen verloren gegangen. Es zählt nur noch, was ist, und dieses werde durch funktionale – ich möchte ergänzen: mechanistische – Bezüge erklärt. Vor diesem Hintergrund wurden Ethos und Religion in die subjektive Sphäre verwiesen. Sie sind nicht mehr objektiv bestimmbar. Wir kennen das: ,Anything goes‘. „Da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt“, so der Papst, und: „Dies ist eine dramatische Situation (…)“.
Das führe in die Kulturlosigkeit und fordere zugleich extremistische und radikale Reaktionen heraus – ein wichtiger Punkt, finde ich. Wir schüfen fensterlose Betonbauten, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, ohne Fenster in die weite Welt Gottes. Obwohl wir doch nach wie vor von Gottes Vorräten schöpften!

Der Papst weist darauf hin, dass der Mensch sich nicht selbst gemacht hat. Das ist wichtig! Wir Menschen neigen dazu, uns in einem Ausschnitt der Realität einzurichten, indem wir uns selbst als gegeben voraussetzen, und vergessen dabei, dass auch dies eine Wahrheit ist: wir machen uns nicht selbst. Woher kommen wir also?

Spannenderweise zieht Benedikt ausgerechnet die ökologische Bewegung als Fürsprecherin für seine transzendentale Position heran. Jungen Menschen sei bewusst geworden, „dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen.“ Es gehe darum, „auf die Sprache der Natur zu hören“, und es gäbe auch eine „Ökologie des Menschen“. Auch der Mensch habe eine Natur, die er achten müsse und nicht einfach manipulieren könne. Der Mensch habe sich nicht selbst gemacht. Die Natur weise eine objektive Vernunft auf und Normen, die rechtsphilosophisch nur aus dem Willen kommen können. Also müsse es in der Natur einen Willen geben, was ein intelligentes Wesen, einen „Creator Spiritus“, also einen Schöpfergott, voraussetze.

Papst Benedikt ist schlau genug, an dieser Stelle nicht einfach nur auf die Religion zurück zu lenken. Er beruft sich auf das europäische Erbe aus dem Dreigestirn Jerusalem, Athen und Rom – der Gottglauben Israels, die philosophische Vernunft der Griechen und das Rechtsdenken der Römer. Indes – von der Überzeugung eines Schöpfergottes her sei die Idee der Menschenrechte entwickelt worden, die Gleichheit der Menschen, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Verantwortung des Menschen für sein Handeln.

Dies sind ohne Zweifel die Größen, um die sich ethische Fragen drehen. In der „Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen“ werden die Maßstäbe des Rechts gesetzt. Damit kehrt Benedikt zu der religiös begründeten Ethik zurück und kombiniert sie mit dem humanistischen Axiom der Menschenwürde, die rechtsphilosophisch gesehen meiner Meinung nach auch ohne Gott gedacht werden kann.

Benedikt endet mit der Bitte Salomons und empfiehlt den Politikern im Bundestag, um das hörende Herz zu bitten, „die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“

Es ist schon ergreifend für mich, dass eine solche tiefe rechtsphilosophische Fragestellung vor den pragmatischen Alltagspolitikern präsentiert wurde, und noch dazu von einer anerkannten Autorität. Die Politiker ergehen sich ja in der Regel nur in demagogischen Ego-Kämpfen, in ideologischen Reden und in Sachfragen. Das ist in gewissen Sinne auch ihre Aufgabe. Dennoch stellen sich diese grundlegenden Fragen, und nur allzu selten werden sie behandelt.

Die Notwendigkeit eines transzendenten Pols, also einer wie immer religiösen oder spirituellen Ausrichtung auf eine Höhere Macht, einen Schöpfer, Göttin-Gott, Großen Geist oder wie auch immer, bringt der menschlichen Erkenntnis eine dritte Dimension, gleichsam eine vertikale Achse. Eine Instanz über den Menschen schützt sie vor der Hybris, unantastbare Schöpfer zu sein, ganz oben an der Spitze zu stehen und allmächtig zu sein. Wir sind „nicht selbst gemacht“, wie Benedikt voll und ganz realistisch bedenkt. Demzufolge stehen wir nicht ganz oben und sind nicht allmächtig. Das gibt Demut und in der Tat sogar Erkenntnis der Realität, wie sie ist. Das daraus sogar die Verantwortung des Menschen für sein Handeln folgt, ist eines der Mysterien des echten Glaubens. Gott hat uns geschaffen. Wir sind gewollt. Der Mensch, der diese Schöpfung zerstört, weist Gott zurück. Wir haben diese Fähigkeit, Gott zurückzuweisen. Und genau daraus ergibt sich die unreduzierbare Verantwortlichkeit für unser Handeln trotz und gerade wegen Gott. Nicht blinder Glaube also, im Sinne eines kindlichen Gottesglaubens, der jede eigene Verantwortung leugnet, ist hier angezeigt, sondern die große Synthese aus Gott und der Welt. Wir Menschen können zwar die Schöpfung manipulieren und zerstören, aber wir können das nicht schöpfen, was Gott geschaffen hat. Noch keinem Wissenschaftler ist es gelungen, einen Grashalm zu erzeugen, ganz zu schweigen von einer Ameise oder anderem. Wir modulieren und manipulieren das Gegebene. Mehr können wir nicht. Wir können Gott zurückweisen und uns an seine Stelle setzen. Aber das ist nur eine Verkennung der Realität.

In der Anerkennung Gottes oder einer göttlichen Kraft enthüllt sich uns die Ethik und die Unterscheidung von Gut und Böse. Nicht als Normenkatalog, den es unter Androhung von Strafe zu befolgen gälte, sondern als inneres Wissen, als Ge-Wissen, das aus der rechten Einordnung des Menschen in die Schöpfung resultiert. Insofern ist wahres Recht das Gesetz der Wahrheit, dessen, was wahr ist, was tatsächlich ist. Nur in der Anwendung des wahren Bezugssystems fühlen wir die Stimmigkeit, den Kammerton A des Herzens. Es funktioniert. Dieses Bezugssystem ist keine Schöpfung des Menschen und unterliegt nicht seiner Entscheidung. Wir können es indes erkennen. Dann fällt alles an seinen rechten Platz und es offenbart sich alles, wie die Sonne am Tag alles erleuchtet.

Die Rede des Papstes als Video in der Mediathek des Bundestages.

Standard