Heute hörte ich von einem Sonderheft „Psychologie heute“ über Depression. Die Person, die mir davon erzählte, gab folgende Aussage aus dem Heft wider:
„Gedanken sind nicht die Wahrheit. Gefühle sind nicht die Realität. Gefühle werden durch die Gedanken erzeugt.“
Das habe so in einem der Artikel gestanden und komme aus dem Buddhismus. Ich habe das Zitat nicht nachgeprüft. Darum geht es auch nicht. Die o.g. Aussage ist ziemlich eindeutig und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dass dies die generelle Haltung des Buddhismus ist, kombiniert mit westlicher Psychologie, ist auch keine Neuigkeit.
Das macht sie aber deswegen nicht wahr.
Ich möchte hier ganz thesenhaft und roh meine durch Innenschau, Wahrnehmung und philosophische Forschung gefundenen Erkenntnisse dazu wiedergeben.
+ Die Gefühle sind die Realität.
Es gibt tatsächlich keine andere Realität im Sinne einer echten essentiellen Bedeutsamkeit für uns Menschen. Die objektive Faktizität eines rohen materiellen Bestandes der Außenwelt wurde schon seit Anfang des 20. Jhs. dekonstruiert und es wurde gezeigt, dass ein naiver Objektivismus nicht existiert. Unsere Wahrnehmung von der Außenwelt ist also immer durch unsere Subjektivität gefärbt. Die philosophischen Moden überstürzten sich in der Annahme, dass es gar keine Realität gäbe, oder dass sie zumindest nicht objektivierbar, also nicht für mehrere Subjekte gleich wahrnehmbar sei.
Bei all diesen philosophischen Schulen wird jedoch die Architektur des menschlichen Wesens nicht vollständig in Betracht gezogen. Der Mensch ist primär ein fühlendes Wesen. Der Sinn des menschlichen Lebens, wie allen Lebens, ist es, bestimmte Gefühle zu erfahren, nämlich Freude und Liebe, sowie deren Derivate wie etwa Geborgenheit, Frieden, Zugehörigkeit, Schutz usw.
Weder materielle Gegenstände noch Gedanken können den Menschen zufriedenstellen. Die Realität des Menschen ist seine Existenz, sein Leben, und das ist geprägt durch die o.g. Gefühle und Bedürfnisse.
+ Die Gefühle sind die primäre Realität des Menschen, nicht die Gedanken.
+ Echte Gefühle entstehen nicht aus den Gedanken.
+ Es gibt zwei Sorten von Gefühlen, die primären und die sekundären.
Die primären Gefühle sind die unmittelbaren Wahrnehmungsreaktionen auf die Umwelt und geben uns Rückmeldung über unsere momentane Situation. Die sekundären Gefühle sind durch Gedanken ausgelöst.
Wenn ich z.B. bei Glatteis im Auto eine abschüssige Straße hinunterfahre, an deren Ende eine Kurve kommt, habe ich Angst. Das ist eine natürlich und vernünftige Reaktion auf die Außenwelt. Es IST gefährlich, so eine Straße bei Eis hinunterzufahren.
Wenn mir nun jemand erklären will, dass ich nur Angst habe, weil ich denke, es sei gefährlich, dann hat diese Person einen Teil der Kausalitätskette herausisoliert und den begründeten Anfang ignoriert. Natürlich denke ich auch, dass die Straße gefährlich ist. Schließlich habe ich einen Führerschein und habe Erfahrung im Autofahren. Dennoch kommt der Gedanke zeitlich nach dem Gefühl der Angst.
Natürlich kann ich durch den Gedanken, dass vor mir eine Schlange liegt, Angst auslösen. Tatsächlich handelt es sich vielleicht um ein Seil, das in der Dunkelheit wie eine Schlange aussieht (das berühmte Beispiel, dass im Advaita-Vedanta dazu benutzt wird, die Illusion der Welt zu beweisen – welch eine törichte Argumentation). Diese Angst ist eine sekundäre Angst, weil sie durch die Gedanken ausgelöst wurde – sie ist ein sekundäres Gefühl.
Gleichwohl gibt es gefährliche Schlangen, die Angst ist also nicht ganz unbegründet. Wenn jemand einmal von einem Hund gebissen wurde, dann hat er danach mehr Angst vor Hunden als vor diesem Vorfall. Das ist eine Angst, die auf einer realen emotionalen Erfahrung beruht, dem Schrecken und der Angst, die aus dem Hundebiss resultiert. Wenn ich als Kind von einem Erwachsenen sexuell missbraucht wurde, dann löst eine Situation in der Gegenwart, die mich an diese Situation in der Vergangenheit erinnert, wieder Angst aus. Nun vom Denken her versuchen zu wollen, diese Angst als Illusion hinzustellen und dadurch zu entkräften, ist sinnlos. Das Beste, was man dadurch erreichen kann, ist in die Transzendenz zu flüchten, dann ist man aber nicht mehr hier und jetzt und die nächste ähnliche Situation wird wieder die Angst auslösen. Die Angst wird nur verdrängt aber nicht geheilt. Man muss sich dann aus allen betreffenden Situationen fernhalten, weshalb auch alle Transzendenzreligionen zur Weltflucht neigen. Sie kompensieren ihre verdrängten Gefühle durch negative Werturteile und Philosophien über die Welt.
Die primären Gefühle sind die primären, menschlich relevanten Rückmeldungen zur Außenwelt.
+ Echtes Denken ist Nach-Denken.
D.h. das Denken kommt nach dem Fühlen und Erfahren. Echtes Denken dient dazu, Muster in der Außenwelt bzw. in den emotionalen Rückmeldungen zu erkennen, die mir eine Prognose über zukünftige Folgen ähnlicher Situationen ermöglichen. Logik ist das Wissen von dem, was man aus Erfahrung erwartet. In diesem Sinne ist auch alles Denken auf die Vergangenheit und die Zukunft gerichtet, es kann in der Zeit reisen und zwar schneller als das Licht. Echte Gefühle dagegen sind ausschließlich im Jetzt, in der Gegenwart. Dafür haben sie Lebensenergie, was das Denken nicht hat.
Cleanes Denken ist Nach-Denken. Zuerst passiert etwas oder wir erleben und tun etwas. Danach versuchen wir mit dem Denken, das Muster darin zu erkennen. Denken ist Empfangen.
Wir missbrauchen das Denken, indem wir damit bestimmen wollen. Anstatt die Wirklichkeit zu erkennen, wollen wir sie bestimmen. Das Denken wird von der Wirklichkeit abgekoppelt, rotiert in sich selbst und gebiert künstliche Welten, autologische Gebilde, die nicht aus der Wirklichkeit abgeleitet sind, sondern auf dem Kick der logischen Geschlossenheit beruhen – ein Scheinfriede, eine Scheinantwort, eine Welt der Illusion, getrennt von der Wirklichkeit, von mir und von Gott, und von den Menschen. Das ist mentale Masturbation.
Die Bestimmung kommt nicht vom Denken, sondern von unserem Spirit.
+ Denken kann Gefühle erzeugen.
Dies sind die sekundären, mental induzierten Gefühle. Man kann sie auch Pseudo-Gefühle nennen. Solches Denken ist kein Nach-Denken, sondern Vor-Stellen.
Das primäre Gefühl: –> Das sekundäre Gefühl:
Angst –> Panik
Wut –> Groll
Schmerz –> Leid
Freude –> Vergnügen
Liebe –> Hörigkeit, Besessenheit
Panik ist eine Angst ohne reale Grundlage. Sie ist grenzenlos und bodenlos, sie hat keinen Grund, sie ist dysfunktional und gibt keine Rückmeldung über die Außenwelt. Zum Beispiel produziert der Gedanke, ich habe etwas falsch gemacht, Panik.
Groll resultiert aus den Gedanken, die die Wut unterdrücken. Groll hält sich an der Vergangenheit fest und wiederholt bestimmte Situationen wieder und wieder im Geist.
Leid ist der diffuse, unbestimmbare und unverstehbare Schmerz, die Depression, die totale Frustration.
Vergnügen ist der mental oder materiell induzierte Kick, die Droge, die man einfährt, um sich wegzumachen. Vergnügen wird aus den Gedanken geboren. Zum Beispiel: »Ich bin der Schöpfer meiner Welt. Ich bin Gott.« Dann geht es mir gut und ich genieße das Leben. Tatsächlich ist es eine riesige Illusion und es ist eine Frage der Zeit, wann die Seifenblase platzt.
Hörigkeit und Besessenheit sind die exzessive Anhaftung an ein Objekt, einen Ort, eine Handlung oder einen Menschen. Das sind die manifesten Suchtprozesse. Es ist die völlige emotionale, kognitive und spirituelle Abschottung von der Außenwelt. Die Außenwelt wird nicht mehr gefühlt, sondern nur noch ausgebeutet und missbraucht.
+ Spiritualität ist nicht Fühlen.
Die spirituelle Ebene und die emotionale Ebene sind zwei eigenständige, voneinander verschiedene Qualitäten. Die emotionale Ebene wurde bisher in den spirituellen Traditionen weitestgehend vernachlässigt. Meistens wurde sie dem Denken zugeschlagen und in der Regel als minderwertiges Anhängsel derselben abgetan. Tatsächlich haben wir mit der emotionalen Sphäre eine vierte Dimension neben Körper, Geist und Seele.
Die spirituelle Dimension betrifft den Anteil unseres Wesen, der jenseits von Raum und Zeit existiert, die Stille, das Göttliche, das Nichts, das Paradies, die ewige spirituelle Seele. Dieser Raum der Transzendenz hat mit der diesseitigen Welt nichts zu tun. Wir können als spirituelle Wesen in diesen Raum gehen, dann lassen wir aber unsere menschliche Form und Inhalt zurück. Dann sind wir keine Menschen mehr. Sobald wir aber in die menschliche Sphäre zurückkommen, gelten auch wieder die entsprechenden Bedingungen. Das bedeutet, es ist unmöglich, emotionale Wunden durch den spirituellen Teil unserer Person zu heilen. Wir können entweder die menschliche Form für immer aufgeben, dann gehen wir in die Transzendenz ein, oder wir heilen die emotionalen Wunden und erfüllen unsere emotionalen Bedürfnisse in der menschlichen Form.
+ Emotionen sind auch die Essenz der spirituellen Sphäre.
In dem Bestand der Weltreligionen lässt sich beobachten, dass die theistischen Religionen von Liebe zu Gott geprägt sind. Während Buddhismus und Advaita aufgrund ihrer These, dass die ganze Welt und im Buddhismus sogar das Selbst Illusion sind, jegliche Gedanken und Gefühle ebenfalls als Illusion deklarieren, finden wir in den theistischen Religion (Christentum, Judentum, Islam, Krishna-bhakti) Gefühle im Zentrum der religiösen Erfahrung. Die Liebe zu Gott, die Freude am Dienen, das Vertrauen und die Geborgenheit in Gott sind zentrale Motive und erfüllen den Praktiker. Der Sinn des Lebens besteht in der Erfahrung dieser Gefühle, und in diesen spirituellen Traditionen besteht sogar der Sinn der Spiritualität in der Erfahrung dieser Gefühle.
Die ausführlichste Beschreibung dieser Gefühle findet sich im theistischen Vedanta, der Tradition der Krishna-Bhakti. Bhakti heißt Liebe. In der Bhakti-Tradition werden diese Gefühle »rasa« und »bhava« genannt. Rasas sind die verschiedenen emotionalen Stimmungen in Bezug zu Gott wie Neutralität, Zorn, Geschwisterlichkeit, Erotik, um nur einige Beispiele zu nennen. Bhavas sind die verschiedenen Intensitätsstufen der direkten Gefühle der Gottesliebe.
Während der Advaita-Vedanta und der Buddhismus eine kognitive, mentale Erleuchtung zur Verfügung stellen (jnana), bieten die theistischen Traditionen zuerst eine emotional ausgerichtete Erleuchtung an (bhakti). Beides hängt in der menschlichen Form zusammen. So führt Bhakti zu Jnana und Jnana zu Bhakti. Es muss jedoch die Priorität der Bhakti festgestellt werden, da sie direkt an der emotionalen Sphäre ansetzt.
Alle diese spirituellen Dispositionen sind für den Menschen relevant, was bedeutet, dass die menschliche Disposition systemisch über den spirituellen Dispositionen steht und diese bestimmt. Deshalb ist die Priorität der Emotionen auch für die spirituelle Sphäre gegeben.
+ Das Leben selbst ist das Spirituelle.
Es gibt keine andere Realität als das Leben. Es gibt Szenarios und Geschichten über eine andere Welt, aber diese sind nicht die Realität. Die Realität ist das, was ist; das Gegebene. Das Sein ist. Im Sein ist das Leben.
Das Leben ist ein spirituelles Phänomen. Das Leben in seiner gesunden Form und im richtigen geistigen Verständnis IST das Spirituelle. (1)
Und deshalb sind die Emotionen auf der GANZEN Linie primär. Sowohl in der menschlichen Lebensform als auch in der ewigen spirituellen Transzendenz im Reich Gottes, im Paradies, in Goloka Vrindavan, wo wir in einer ewigen Liebesbeziehung mit Gott leben. Dieser absolute Ort ist aber nicht zeitlich oder räumlich verschieden von dem Ort, wo wir jetzt gerade sind. Er ist hier und jetzt. Wir merken es nur nicht.
+ In der Heilung der Gefühle/Emotionen wird die Erleuchtung erreicht.
Tatsächlich sind es die verdrängten Primärgefühle, die uns von der Erleuchtung abhalten. Die Verdrängung erfolgt durch die da-vor-gestellten Gedanken, die in vielfältigsten Philosophien und Glaubenssysteme ihre Ausformung finden. Die Rationalisierungen, Verharmlosungen und Leugnungen des Mentalkörpers sind die Medikamentierungen des emotionalen Schmerzes, der Angst und der Wut. Sie sind auch die artifiziellen Stimuli der erwünschten Emotionen der Freude und Liebe. Deshalb liegen der Buddhismus und der Advaita hier als mentale Erleuchtungssysteme richtig. Sie dekonstruieren die Gedanken. In der Tat: Die Gedanken sind nicht die Wahrheit, wie ganz oben in der Ausgangsaussage konstatiert.
Mit geheilten Gefühlen kann man die Gefühle wieder spüren und ausdrücken. Daraus entsteht Berührung und Verbundenheit, mit sich, mit anderen und mit Gott. Dann kann man auch die Gefühle zu Gott in ihrer reinen, nicht missbrauchten Form erfahren. Aus dieser Freude und Liebe entsteht Sein. Und aus diesem Sein entsteht Wissen. Das ist die richtige Reihenfolge. (2)
+ Die primäre Richtung der Liebe ist das Nehmen der Liebe.
Wir nehmen die Liebe von Gott, denn er ist der Ursprung der Liebe. Wenn wir Liebe von jemandem nehmen, fühlt dieser die Liebe. Wir geben nicht direkt Liebe, sondern indirekt, indem wir Liebe nehmen. Wir sind nicht der Ursprung der Liebe, sondern die Quelle der Liebe. Der Ursprung ist eins, die Quelle ist zwei. (siehe dazu den Blog vom 16.01.2010)
Ronald Engert, 1.2.2010
Fußnoten:
1 Man kann das Leben als Mensch oder in der materiellen Welt als materiell einstufen, aber das ist nur eine geistige Haltung. Die geistige Haltung erzeugt das Materielle. Das sind die Ausbeutungs- und Missbrauchskonstrukte des besessenen Denkens, das mittels Ausbeutung und Missbrauch seine Pseudogefühle am Leben befriedigt.
2 In der vedischen Terminologie stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar:
Freude (ananda) und Liebe (bhava) ist die theistische Gotteserfahrung (bhagavan). Gott als DU.
Sein (sat) ist die Erfahrung der eigenen Göttlichkeit (paramatma). Gott als ICH.
Wissen (cit) ist die Erfahrung der Göttlichkeit und Vollkommenheit von allem (brahman). Gott als ES.
Dies ist die vollständige Gotteserfahrung in ihrer Dreiheit (Dreifaltigkeit, Trinität), wie sie in den vedischen Schriften niedergelegt ist und heute von Ken Wilber und Daniel Barron rekonstruiert wird, ohne dass sie die entsprechenden vedischen Quellen kennen. Dazu werde ich zu gegebener Zeit einen eigenen Artikel verfassen.