Philosophie, Selbst

Fühlen und Denken

Verbundenheit

Verbundenheit

Heute hörte ich von einem Sonderheft „Psychologie heute“ über Depression. Die Person, die mir davon erzählte, gab folgende Aussage aus dem Heft wider:

„Gedanken sind nicht die Wahrheit. Gefühle sind nicht die Realität. Gefühle werden durch die Gedanken erzeugt.“

Das habe so in einem der Artikel gestanden und komme aus dem Buddhismus. Ich habe das Zitat nicht nachgeprüft. Darum geht es auch nicht. Die o.g. Aussage ist ziemlich eindeutig und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dass dies die generelle Haltung des Buddhismus ist, kombiniert mit westlicher Psychologie, ist auch keine Neuigkeit.

Das macht sie aber deswegen nicht wahr.

Ich möchte hier ganz thesenhaft und roh meine durch Innenschau, Wahrnehmung und philosophische Forschung gefundenen Erkenntnisse dazu wiedergeben.

+ Die Gefühle sind die Realität.
Es gibt tatsächlich keine andere Realität im Sinne einer echten essentiellen Bedeutsamkeit für uns Menschen. Die objektive Faktizität eines rohen materiellen Bestandes der Außenwelt wurde schon seit Anfang des 20. Jhs. dekonstruiert und es wurde gezeigt, dass ein naiver Objektivismus nicht existiert. Unsere Wahrnehmung von der Außenwelt ist also immer durch unsere Subjektivität gefärbt. Die philosophischen Moden überstürzten sich in der Annahme, dass es gar keine Realität gäbe, oder dass sie zumindest nicht objektivierbar, also nicht für mehrere Subjekte gleich wahrnehmbar sei.
Bei all diesen philosophischen Schulen wird jedoch die Architektur des menschlichen Wesens nicht vollständig in Betracht gezogen. Der Mensch ist primär ein fühlendes Wesen. Der Sinn des menschlichen Lebens, wie allen Lebens, ist es, bestimmte Gefühle zu erfahren, nämlich Freude und Liebe, sowie deren Derivate wie etwa Geborgenheit, Frieden, Zugehörigkeit, Schutz usw.
Weder materielle Gegenstände noch Gedanken können den Menschen zufriedenstellen. Die Realität des Menschen ist seine Existenz, sein Leben, und das ist geprägt durch die o.g. Gefühle und Bedürfnisse.

+ Die Gefühle sind die primäre Realität des Menschen, nicht die Gedanken.
+ Echte Gefühle entstehen nicht aus den Gedanken.
+ Es gibt zwei Sorten von Gefühlen, die primären und die sekundären.

Die primären Gefühle sind die unmittelbaren Wahrnehmungsreaktionen auf die Umwelt und geben uns Rückmeldung über unsere momentane Situation. Die sekundären Gefühle sind durch Gedanken ausgelöst.
Wenn ich z.B. bei Glatteis im Auto eine abschüssige Straße hinunterfahre, an deren Ende eine Kurve kommt, habe ich Angst. Das ist eine natürlich und vernünftige Reaktion auf die Außenwelt. Es IST gefährlich, so eine Straße bei Eis hinunterzufahren.
Wenn mir nun jemand erklären will, dass ich nur Angst habe, weil ich denke, es sei gefährlich, dann hat diese Person einen Teil der Kausalitätskette herausisoliert und den begründeten Anfang ignoriert. Natürlich denke ich auch, dass die Straße gefährlich ist. Schließlich habe ich einen Führerschein und habe Erfahrung im Autofahren. Dennoch kommt der Gedanke zeitlich nach dem Gefühl der Angst.
Natürlich kann ich durch den Gedanken, dass vor mir eine Schlange liegt, Angst auslösen. Tatsächlich handelt es sich vielleicht um ein Seil, das in der Dunkelheit wie eine Schlange aussieht (das berühmte Beispiel, dass im Advaita-Vedanta dazu benutzt wird, die Illusion der Welt zu beweisen – welch eine törichte Argumentation). Diese Angst ist eine sekundäre Angst, weil sie durch die Gedanken ausgelöst wurde – sie ist ein sekundäres Gefühl.
Gleichwohl gibt es gefährliche Schlangen, die Angst ist also nicht ganz unbegründet. Wenn jemand einmal von einem Hund gebissen wurde, dann hat er danach mehr Angst vor Hunden als vor diesem Vorfall. Das ist eine Angst, die auf einer realen emotionalen Erfahrung beruht, dem Schrecken und der Angst, die aus dem Hundebiss resultiert. Wenn ich als Kind von einem Erwachsenen sexuell missbraucht wurde, dann löst eine Situation in der Gegenwart, die mich an diese Situation in der Vergangenheit erinnert, wieder Angst aus. Nun vom Denken her versuchen zu wollen, diese Angst als Illusion hinzustellen und dadurch zu entkräften, ist sinnlos. Das Beste, was man dadurch erreichen kann, ist in die Transzendenz zu flüchten, dann ist man aber nicht mehr hier und jetzt und die nächste ähnliche Situation wird wieder die Angst auslösen. Die Angst wird nur verdrängt aber nicht geheilt. Man muss sich dann aus allen betreffenden Situationen fernhalten, weshalb auch alle Transzendenzreligionen zur Weltflucht neigen. Sie kompensieren ihre verdrängten Gefühle durch negative Werturteile und Philosophien über die Welt.
Die primären Gefühle sind die primären, menschlich relevanten Rückmeldungen zur Außenwelt.

+ Echtes Denken ist Nach-Denken.
D.h. das Denken kommt nach dem Fühlen und Erfahren. Echtes Denken dient dazu, Muster in der Außenwelt bzw. in den emotionalen Rückmeldungen zu erkennen, die mir eine Prognose über zukünftige Folgen ähnlicher Situationen ermöglichen. Logik ist das Wissen von dem, was man aus Erfahrung erwartet. In diesem Sinne ist auch alles Denken auf die Vergangenheit und die Zukunft gerichtet, es kann in der Zeit reisen und zwar schneller als das Licht. Echte Gefühle dagegen sind ausschließlich im Jetzt, in der Gegenwart. Dafür haben sie Lebensenergie, was das Denken nicht hat.
Cleanes Denken ist Nach-Denken. Zuerst passiert etwas oder wir erleben und tun etwas. Danach versuchen wir mit dem Denken, das Muster darin zu erkennen. Denken ist Empfangen.
Wir missbrauchen das Denken, indem wir damit bestimmen wollen. Anstatt die Wirklichkeit zu erkennen, wollen wir sie bestimmen. Das Denken wird von der Wirklichkeit abgekoppelt, rotiert in sich selbst und gebiert künstliche Welten, autologische Gebilde, die nicht aus der Wirklichkeit abgeleitet sind, sondern auf dem Kick der logischen Geschlossenheit beruhen – ein Scheinfriede, eine Scheinantwort, eine Welt der Illusion, getrennt von der Wirklichkeit, von mir und von Gott, und von den Menschen. Das ist mentale Masturbation.
Die Bestimmung kommt nicht vom Denken, sondern von unserem Spirit.

+ Denken kann Gefühle erzeugen.
Dies sind die sekundären, mental induzierten Gefühle. Man kann sie auch Pseudo-Gefühle nennen. Solches Denken ist kein Nach-Denken, sondern Vor-Stellen.

Das primäre Gefühl: –> Das sekundäre Gefühl:
Angst –> Panik
Wut –> Groll
Schmerz –> Leid
Freude –> Vergnügen
Liebe –> Hörigkeit, Besessenheit

Panik ist eine Angst ohne reale Grundlage. Sie ist grenzenlos und bodenlos, sie hat keinen Grund, sie ist dysfunktional und gibt keine Rückmeldung über die Außenwelt. Zum Beispiel produziert der Gedanke, ich habe etwas falsch gemacht, Panik.
Groll resultiert aus den Gedanken, die die Wut unterdrücken. Groll hält sich an der Vergangenheit fest und wiederholt bestimmte Situationen wieder und wieder im Geist.
Leid ist der diffuse, unbestimmbare und unverstehbare Schmerz, die Depression, die totale Frustration.
Vergnügen ist der mental oder materiell induzierte Kick, die Droge, die man einfährt, um sich wegzumachen. Vergnügen wird aus den Gedanken geboren. Zum Beispiel: »Ich bin der Schöpfer meiner Welt. Ich bin Gott.« Dann geht es mir gut und ich genieße das Leben. Tatsächlich ist es eine riesige Illusion und es ist eine Frage der Zeit, wann die Seifenblase platzt.
Hörigkeit und Besessenheit sind die exzessive Anhaftung an ein Objekt, einen Ort, eine Handlung oder einen Menschen. Das sind die manifesten Suchtprozesse. Es ist die völlige emotionale, kognitive und spirituelle Abschottung von der Außenwelt. Die Außenwelt wird nicht mehr gefühlt, sondern nur noch ausgebeutet und missbraucht.

+ Spiritualität ist nicht Fühlen.
Die spirituelle Ebene und die emotionale Ebene sind zwei eigenständige, voneinander verschiedene Qualitäten. Die emotionale Ebene wurde bisher in den spirituellen Traditionen weitestgehend vernachlässigt. Meistens wurde sie dem Denken zugeschlagen und in der Regel als minderwertiges Anhängsel derselben abgetan. Tatsächlich haben wir mit der emotionalen Sphäre eine vierte Dimension neben Körper, Geist und Seele.
Die spirituelle Dimension betrifft den Anteil unseres Wesen, der jenseits von Raum und Zeit existiert, die Stille, das Göttliche, das Nichts, das Paradies, die ewige spirituelle Seele. Dieser Raum der Transzendenz hat mit der diesseitigen Welt nichts zu tun. Wir können als spirituelle Wesen in diesen Raum gehen, dann lassen wir aber unsere menschliche Form und Inhalt zurück. Dann sind wir keine Menschen mehr. Sobald wir aber in die menschliche Sphäre zurückkommen, gelten auch wieder die entsprechenden Bedingungen. Das bedeutet, es ist unmöglich, emotionale Wunden durch den spirituellen Teil unserer Person zu heilen. Wir können entweder die menschliche Form für immer aufgeben, dann gehen wir in die Transzendenz ein, oder wir heilen die emotionalen Wunden und erfüllen unsere emotionalen Bedürfnisse in der menschlichen Form.

+ Emotionen sind auch die Essenz der spirituellen Sphäre.
In dem Bestand der Weltreligionen lässt sich beobachten, dass die theistischen Religionen von Liebe zu Gott geprägt sind. Während Buddhismus und Advaita aufgrund ihrer These, dass die ganze Welt und im Buddhismus sogar das Selbst Illusion sind, jegliche Gedanken und Gefühle ebenfalls als Illusion deklarieren, finden wir in den theistischen Religion (Christentum, Judentum, Islam, Krishna-bhakti) Gefühle im Zentrum der religiösen Erfahrung. Die Liebe zu Gott, die Freude am Dienen, das Vertrauen und die Geborgenheit in Gott sind zentrale Motive und erfüllen den Praktiker. Der Sinn des Lebens besteht in der Erfahrung dieser Gefühle, und in diesen spirituellen Traditionen besteht sogar der Sinn der Spiritualität in der Erfahrung dieser Gefühle.
Die ausführlichste Beschreibung dieser Gefühle findet sich im theistischen Vedanta, der Tradition der Krishna-Bhakti. Bhakti heißt Liebe. In der Bhakti-Tradition werden diese Gefühle »rasa« und »bhava« genannt. Rasas sind die verschiedenen emotionalen Stimmungen in Bezug zu Gott wie Neutralität, Zorn, Geschwisterlichkeit, Erotik, um nur einige Beispiele zu nennen. Bhavas sind die verschiedenen Intensitätsstufen der direkten Gefühle der Gottesliebe.
Während der Advaita-Vedanta und der Buddhismus eine kognitive, mentale Erleuchtung zur Verfügung stellen (jnana), bieten die theistischen Traditionen zuerst eine emotional ausgerichtete Erleuchtung an (bhakti). Beides hängt in der menschlichen Form zusammen. So führt Bhakti zu Jnana und Jnana zu Bhakti. Es muss jedoch die Priorität der Bhakti festgestellt werden, da sie direkt an der emotionalen Sphäre ansetzt.
Alle diese spirituellen Dispositionen sind für den Menschen relevant, was bedeutet, dass die menschliche Disposition systemisch über den spirituellen Dispositionen steht und diese bestimmt. Deshalb ist die Priorität der Emotionen auch für die spirituelle Sphäre gegeben.

+ Das Leben selbst ist das Spirituelle.
Es gibt keine andere Realität als das Leben. Es gibt Szenarios und Geschichten über eine andere Welt, aber diese sind nicht die Realität. Die Realität ist das, was ist; das Gegebene. Das Sein ist. Im Sein ist das Leben.
Das Leben ist ein spirituelles Phänomen. Das Leben in seiner gesunden Form und im richtigen geistigen Verständnis IST das Spirituelle. (1)
Und deshalb sind die Emotionen auf der GANZEN Linie primär. Sowohl in der menschlichen Lebensform als auch in der ewigen spirituellen Transzendenz im Reich Gottes, im Paradies, in Goloka Vrindavan, wo wir in einer ewigen Liebesbeziehung mit Gott leben. Dieser absolute Ort ist aber nicht zeitlich oder räumlich verschieden von dem Ort, wo wir jetzt gerade sind. Er ist hier und jetzt. Wir merken es nur nicht.

+ In der Heilung der Gefühle/Emotionen wird die Erleuchtung erreicht.
Tatsächlich sind es die verdrängten Primärgefühle, die uns von der Erleuchtung abhalten. Die Verdrängung erfolgt durch die da-vor-gestellten Gedanken, die in vielfältigsten Philosophien und Glaubenssysteme ihre Ausformung finden. Die Rationalisierungen, Verharmlosungen und Leugnungen des Mentalkörpers sind die Medikamentierungen des emotionalen Schmerzes, der Angst und der Wut. Sie sind auch die artifiziellen Stimuli der erwünschten Emotionen der Freude und Liebe. Deshalb liegen der Buddhismus und der Advaita hier als mentale Erleuchtungssysteme richtig. Sie dekonstruieren die Gedanken. In der Tat: Die Gedanken sind nicht die Wahrheit, wie ganz oben in der Ausgangsaussage konstatiert.
Mit geheilten Gefühlen kann man die Gefühle wieder spüren und ausdrücken. Daraus entsteht Berührung und Verbundenheit, mit sich, mit anderen und mit Gott. Dann kann man auch die Gefühle zu Gott in ihrer reinen, nicht missbrauchten Form erfahren. Aus dieser Freude und Liebe entsteht Sein. Und aus diesem Sein entsteht Wissen. Das ist die richtige Reihenfolge. (2)

+ Die primäre Richtung der Liebe ist das Nehmen der Liebe.
Wir nehmen die Liebe von Gott, denn er ist der Ursprung der Liebe. Wenn wir Liebe von jemandem nehmen, fühlt dieser die Liebe. Wir geben nicht direkt Liebe, sondern indirekt, indem wir Liebe nehmen. Wir sind nicht der Ursprung der Liebe, sondern die Quelle der Liebe. Der Ursprung ist eins, die Quelle ist zwei. (siehe dazu den Blog vom 16.01.2010)

Ronald Engert, 1.2.2010

Fußnoten:

1 Man kann das Leben als Mensch oder in der materiellen Welt als materiell einstufen, aber das ist nur eine geistige Haltung. Die geistige Haltung erzeugt das Materielle. Das sind die Ausbeutungs- und Missbrauchskonstrukte des besessenen Denkens, das mittels Ausbeutung und Missbrauch seine Pseudogefühle am Leben befriedigt.

2 In der vedischen Terminologie stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar:
Freude (ananda) und Liebe (bhava) ist die theistische Gotteserfahrung (bhagavan). Gott als DU.
Sein (sat) ist die Erfahrung der eigenen Göttlichkeit (paramatma). Gott als ICH.
Wissen (cit) ist die Erfahrung der Göttlichkeit und Vollkommenheit von allem (brahman). Gott als ES.
Dies ist die vollständige Gotteserfahrung in ihrer Dreiheit (Dreifaltigkeit, Trinität), wie sie in den vedischen Schriften niedergelegt ist und heute von Ken Wilber und Daniel Barron rekonstruiert wird, ohne dass sie die entsprechenden vedischen Quellen kennen. Dazu werde ich zu gegebener Zeit einen eigenen Artikel verfassen.

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10 Gedanken zu “Fühlen und Denken

  1. Lieber Ron,
    nur drei Anmerkungen, da wir schon außerhalb dieser Seite in Diskussion sind:
    1. dass Gefühle „die einzige Realität“ seien, ist m.E. überzogen, hat aber seine Berechtigung darin, dass Fühlen die kommunikativ-einschwingende Erkenntnisart darstellt.
    2. Auch die primären Gefühle sind fundiert in Wahrnehmungen und Spontan-Gedanken.
    Das Beispiel Angst, das du bringst, ist durchaus von der Art der primären Gefühle.
    3. Es gibt aber sekundäre Gefühle, die in reflektierten Werturteilen wurzeln,
    z.B. diese Angst ist kindisch. Das die Angst bewertende Gefühl kann das erste verstärken oder schwächen, jedenfalls regulieren. Es hat auch seine Berechtigung,
    welche, das ist zu prüfen – wie die Berechtigung ausdrücklicher Gedanken-Urteile.

    Wir können es uns nicht zu leicht machen mit den Gefühlen. Ich habe Misstrauen gegen die „terribles simplificateurs“, auch wenn sie im Namen des (auch von mir verteidigten) Gefühls und der Spiritualität auftreten.
    Herzlich: Johannes

  2. Pingback: Tweets that mention Denken und Fühlen « Ronald Engert's Logbuch -- Topsy.com

  3. Ich finde das Thema spannend und möchte mit einer interessanten Erfahrung beitragen: unser Sohn mit Schwiegertochter bekamen vor ein paar Monaten einen Labradorwelpen. „Lilly“ fiel mit Frauchen auf deren Arm (Welpen sollen noch keine Treppen gehen)in der 16. Lebenswoche eine hausinterne Treppe herunter. Frauchen schrie vor Schreck und Schmerzen laut auf, hielt aber tapfer Lilly auf dem Arm fest. Lilly war also überhaupt nichts passiert. Monate später hüteten wir Lilly für 2 Wochen und sollten unter anderem mit ihr Treppen üben gehen. Jedes Mal, wenn wir in die Nähe einer Treppe mit ihr kamen, und sie sogar mit Futter lockten, ging sie rückwärts und zitterte am ganzen Körper. Wir haben schon viele Labradore groß gezogen, aber so etwas noch nie erlebt. In der Nacht fiel mir plötzlich die längst vergessene Begebenheit mit dem Treppensturz wieder ein. Mit viel Geduld und ständig positiver Vertärkung hatten wir sie nach 2 Wochen so weit, daß sie alle Treppen im Haus voller Vertrauen hoch und runter fegte. Bei uns Menschen wird es nicht viel anders sein. Wie viele kleine und große Traumata mögen tief in uns verankert sein. Mit „Denken“ und entsprechender Therapie könnte man z. Bsp. das Gefühl „Angst“ löschen. Muß man nicht alle Gefühle als Folge von gemachten Erfahrungen betrachten? Müßten wir nicht alle Gefühle, die wir nicht haben wollen, auflösen können, wenn wir „richtig“ denken könnten? Ohne meinen Vorredner, Johannes, ärgern zu wollen: ist es nicht tatsächlich so simpel, daß die Bewältigung der Gefühle das Denken erst notwendig machen? Und gäbe es das Denken lediglich um des Denkenwillens überhaupt? Wollen wir nicht alle mit unserem Denken letztlich unsere Gefühle in eine positive Richtung lenken? Ich glaube: erst war das Gefühl, dann das Denken. Und mit Spiritualität hat das vielleicht zunächst mal noch gar nichts zu tun. Die kommt – für mein pragmatisches Empfinden – um sich gute Gefühle zu bereiten. Herzliche Grüße Claudia Bernstorff

  4. Sehr geehrter, lieber Herr Ronald Engert,

    auf Ihren Rundbrief „Denken-Fühlen-Liebe“ möchten wir Ihnen mit folgendem Kommentar antworten:
    Wir freuen uns, dass die bislang vorherrschenden Glaubensüberzeugungen und Lehrmeinungen der Psychologen und Philosophen nunmehr umgedreht werden, und der eigentliche Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen einmal so deutlich hervorgehoben wird.
    In der Vergangenheit wurden solche Überzeugungen kaum ernst genommen. Toll, dass Sie dazu stehen und dies veröffentlichen.
    Wenn Sie mögen, schauen Sie doch einmal in unsere Webseite http://www.betra4.com. Die gesamten Themen unserer Akademie und unserer therapeutischen Arbeit bauen darauf auf, die Gefühle und Gedanken der Menschen in Einklang zu bringen und sie wieder zu erinnern, wer sie in Wirklichkeit sind. Denn, so wie Sie selbst so zutreffend ausgeführt haben, erst durch die Verschmelzung dieser beiden menschlichen Seiten kann Liebe entstehen.
    Wenn Sie interessiert sind, bieten wir Ihnen gerne einen Artikel zu einem unserer Themenschwerpunkte für Ihre Zeitung an (z.B. eine Ausführung zur „NEUEN ENERGIE“. Diese Energie ist das Phänomenalste, was es derzeit zu erleben und zu bestaunen gibt. Sie entfaltet eben dann ihre Wirkung, wenn Fühlen und Denken in Einklang sind).
    Die Menschen sehnen sich nach etwas Neuem. Doch viele Medien verschliessen sich noch immer. Wir freuen uns über Ihre neue Offenheit.

    Mit herzlichen Grüssen aus Spanien
    Bettina Heiniger / Ralph-Dietmar Stief

  5. Lieber Ronald, Hari Om!
    Jetzt werde ich doch ein paar Zeilen schreiben zu obigem Statement, welches angeblich aus dem Buddhismus kommt, sowie zu deinen ersten Ideen diesbezüglich.
    „Gedanken sind nicht die Wahrheit. Gefühle sind nicht die Realität. Gefühle werden durch die Gedanken erzeugt.“
    Dieses Zitat findet sich in den kanonischen buddhistischen Schriften nicht. In den Schriften die für den Mittelweg als „kanonisch“ gelten wird man ein solches Zitat noch weniger finden, denn das obige Zitat ist in sich schon höchst widersprüchlich, da auf der inhaltlichen Ebene ein Fehler vorhanden ist, und auf der strukturellen Ebene ein Zirkelschluss vorliegt, der aufgrund seiner falschen Inhaltlichkeit noch dazu leer, weil argumentlos ist.
    Das obige Zitat bestimmt zwei Kategorien, einmal die Kategorie der Gefühle und einmal die Kategorie der Gedanken, als unreal – was immer das bedeuten soll – und als voneinander abhängig. Wie soll aber aus etwas, was nicht real ist, etwas anderes entstehen, was auch nicht real ist? Soviel zum Inhalt.
    Formallogisch ist ein solcher Satz auch nicht haltbar, denn ein Entstehen von etwas aus einem anderen ist grundsätzlich nicht möglich. Beide, in diesem Satz geäußerten Annahmen möchte ich mit einem Zitat des buddhistischen Philosophen Nagarjuna zurückweisen:
    Weder aus sich selbst, noch aus anderem, noch aus einer Mischung aus beidem und auch nicht grundlos ist irgendwo, irgendwann jemals ein Seiendes entstanden. (Mūlamadhyamakakārikā 1;1)

    Die Gefühle sind Realität.
    Du schreibst schön, dass ein reiner/naiver Objektivismus nicht haltbar ist. Da stimme ich voll und ganz zu. Jedoch ist ein reiner/naiver Subjektivismus auch nicht haltbar. Denn jedes Objekt benötigt immer ein wahrnehmendes Subjekt, und umgekehrt. Ein Objekt ohne wahrnehmendes Bewusstsein ist sinnlos, denn wenn dieses Objekt nicht im Bewusstsein eines wahrnehmenden Subjektes vorhanden ist, dann ist es nicht-vorhanden. Es macht auch keinen Sinn, darüber zu spekulieren, ob es denn dann in einer Ebene wäre, die für uns nicht wahrnehmbar ist. Das mag sein, aber Ebenen, die nicht wahrgenommen werden – und mit wahrnehmen meine ich die gesamte Bandbreite jeder nur möglichen Perception – sind sinnlos, denn sie tauchen ja nie in irgendeinem Bewusstsein auf. Ebenso ist es andersherum mit Subjekten, die nichts zum Wahrnehmen haben, denen sozusagen keine Objekte zur Verfügung stehen. Diese nehmen dann auch Nichts wahr. Da aber ein wahrnehmen grundsätzlich ein Wahrnehmen von Etwas ist, liegt hier keine Wahrnehmung vor. In diesem Sinne kann man beide Variationen der Wahrnehmungstheorie, nämlich naiver Objektivismus und naiver Subjektivismus beiseite räumen, da sie jedes Mal zu einem Widerspruch führen.
    Gefühle nun, sind etwas was der Mensch erfahren kann, was sozusagen wahrgenommen wird. Ich merke, wenn ich traurig bin, wenn ich glücklich bin, wenn ich zornig bin, usw.. Das bedeutet ja erst einmal, dass Gefühle immer etwas Relatives, Bedingtes und Abhängiges sind. Gefühle sind immer Gefühle eines Bewusstseins.
    Du hast aus deiner Ablehnung der Wahrnehmungstheorie des Objektivismus abgeleitet, dass Materialismus den Menschen nicht glücklich machen kann, bzw. ihn nicht zufrieden stellen kann. Das ist zwar schön gedacht, jedoch von seinem logischen Aufbau her falsch, da hier ein Kategorienfehler vorliegt. Aber das ist hier erstmal unwichtig. Vielmehr würde ich fragen: Können denn Gefühle einen Menschen zufrieden machen?
    Ich habe ja oben gesagt, dass Gefühle – und gleiches gilt ja auch für Gedanken – immer bedingt, relativ und abhängig sind. Was ist damit gemeint?
    1. Gefühle sind bedingt:
    Das bedeutet, dass Gefühle nicht aus sich selbst heraus sind (sie sind eben nicht svabhava), sondern sie sind durch etwas anderes bedingt. Durch eine Situation, ein Vorkommnis, etc.. Sie haben sozusagen einen kausalen Grund, warum sie auf einmal da sind. Diese Bedingtheit nennt der Buddhismus pratitya-samutpada, was soviel heißt, wie bedingtes Entstehen. Auf den ersten Blick ist das logisch, denn von Nix kommt nix, sagt man ja auch schön.
    2. Gefühle sind relativ:
    Das bedeutet, dass Gefühle immer mit einem Bewusstsein in Verbindung stehen, welches eben dieses Gefühl gerade fühlt. Ein Gefühl ohne fühlendes Bewusstsein existiert nicht. Wie sollte das auch möglich sein?
    3. Gefühle sind abhängig:
    Das bedeutet, dass Gefühle immer nur im Kontext von Zeitlichkeit, und somit auch im Kontext von Räumlichkeit existieren können. Wäre dem nicht so, so würde ein einmal gefühltes Gefühl für immer im Fühlenden verbleiben, und nie mehr verschwinden. Unsere Erfahrung bestätigt dies ja auch: Man ist nur für eine bestimmte Zeit traurig, glücklich, zornig, etc..
    Auf das Phänomen, einer ewigen, zeitlosen, ja sogar ortlosen Gefühlslage der Gottesliebe, der bhakti-prema, brauche ich hier nicht eingehen, denn diese Gefühlsstimmung ist keine Stimmung, die der grundsätzlichen Wahrnehmungsstruktur der Welt zuzuordnen ist. Hier handelt es sich um etwas Unweltliches, Göttliches, Transzendentales.

    Die Gefühle sind die primäre Realität des Menschen, nicht die Gedanken.
    Hier frage ich mich, warum ist das so, bzw. was ist denn der strukturelle Unterschied – Achtung! Nicht der Inhaltliche – zwischen Gefühl und Gedanke? Sind nicht beide Kategorien Bewusstseinszustände, die der dualen, relationalen Welt zuzuordnen sind? Sind nicht beides Zustände, welche eben die Qualitäten des Bedingt-Seins, des Relativ-Seins und des Abhängig-Seins aufweisen?
    Inhaltlich, und von ihrer Ontogenese sind sie sicher verschieden – keine Frage! Aber strukturell sind sie nur zwei Möglichkeiten von dreien!
    Echte Gefühle entstehen nicht aus den Gedanken.
    Natürlich nicht, wie sollte das auch sein? Denn Gedanken, und damit assoziiere ich natürlich das Denken (jnana), sind ebenso wie das Fühlen (bhakti) und das Wollen, bzw. das Handeln (karma) drei Grundverfasstheiten des Menschen. Drei Grundverfasstheiten, die nicht voneinander ableitbar sind, die nicht austauschbar sind, sondern die eben als Verfasstheit des Menschen in der Welt vorfindbar sind. Aus diesem Grund kennt ja die indische Philosophie auch die Dreiteilung des Yoga-Weges in Jnana-Yoga, Bhakti-Yoga und Karma-Yoga. Diese Wege und Verfasstheiten werden ja in der Bhagavad-Gita oder im Yoga-Sutra schön beschrieben. Und auch die breite Palette der Yoga-Shastras kennt diese Unterteilung, und fügt als vierten Weg, das Gesamt der drei Grundwege an, nämlich den Raja-Yoga. Aus diesen drei Grundwegen des Yoga werden dann in den verschiedenen Yoga-Traditionen unzählige Yoga-Wege „gebastelt“, die allesamt immer eine Mischung aus diesen dreien sind.
    Jedoch stehen diese drei Grundverfasstheiten des Menschen nicht einfach isoliert da, oder sind gar ein Alleinmerkmal eines Menschen, sondern jeder Akt des Menschen besteht immer aus allen drei Teilen dieser Grundverfasstheit (Platon nennt sie Seelenteile). Das bedeutet, dass jeder emotionale Akt immer einen Anteil hat an der kognitiven Verfasstheit und an der Verfasstheit des Handelns. So durchdringen sich diese drei Seinsweisen des Menschen und bedingen sich gegenseitig. Die in den Bhaktitraditionen vorgenommene Abstufung, dass nämlich erst Bhakti zu Jnana führt, und dass hieraus dann wieder Bhakti resultiert, ist insofern richtig, als dass hier aufgezeigt wird, wie zwei der drei Seelenteile miteinander Wechselwirken. Unrichtig, weil nicht beweisbar ist hingegen die Annahme, dass eines der drei Seelenteile eine vorherrschende Stellung hätte und als Basis für die anderen dienen würde.
    Es gibt zwei Sorten von Gefühlen, die primären und die sekundären.
    Ja, kann man sicher so sagen!
    Echtes Denken ist Nach-Denken.
    Du schreibst, dass das Denken nach einer Erfahrung erst einsetzt. Da gebe ich dir Recht. Aber weiterhin schreibst du auch, dass das Denken erst nach dem Fühlen einsetzt. Hier muss ich fragen: Warum? Ich habe oben schon geschrieben, dass es drei Verfasstheiten des Menschen gibt, in der platonischen Philosophie werden diese Verfasstheiten als Seelenteile des Menschen beschrieben, und dass für jedes dieser Verfasstheiten ein Yogaweg existiert. Diese drei Verfasstheiten sind nicht als isolierten Verfasstheiten des Menschen zu sehen, sondern sind alle drei immer gleichzeitig vorhanden. Das heißt, dass jeder kognitive Akt immer auch einen handelnden und einen emotionalen Anteil innehat, und ebenso hat jeder emotionale Akt immer auch einen kognitiven und einen aktiv-handelnden Anteil. Gerade die Bhagavad-Gita nimmt ja genau hierauf Bezug. Und eben deswegen meine Frage, warum hier das Fühlen vor dem Denken gesetzt wird. Vielmehr ist es doch so, dass für den Menschen, der eher ein Gefühlsmensch ist, nach einer Erfahrung vor allem das Gefühl angesprochen wird, während ein kognitiver Mensch eine Erfahrung eher mit einem kognitiven Akt „beantwortet“, bzw. darauf reagiert. Und selbstverständlich präferiert ein Yogi, der einer Tradition des Bhakti zugehört, natürlich das Gefühl, während ein Yogi, der einer Jnana-Tradition angehört, eher das Kognitive bevorzugt. Die unsäglichen Versuche, ob denn der Bhakti Jnana oder Karma vorausgeht, hatten wir in Europa auch, nämlich in der Frage, ob denn dem Glauben (bhakti) die Vernunft (jnana), oder der Vernunft der Glauben vorausgeht.
    Du schreibst „D.h. das Denken kommt nach dem Fühlen und Erfahren. Echtes Denken dient dazu, Muster in der Außenwelt bzw. in den emotionalen Rückmeldungen zu erkennen, die mir eine Prognose über zukünftige Folgen ähnlicher Situationen ermöglichen.“
    Was du hier beschreibst ist nicht Denken, sondern plumpe Wissenschaft. Die Ausmaße des Denkens werden in der Brihad-Aranyaka-Upanishad kurz angerissen:
    ātmā vā are draṣṭavyaḥ śrotavyo mantavyo nididhyāsitavyo maitreyi |
    ātmano vā are darśanena śravaṇena matyā vijñānenedaṃ sarvaṃ viditam ||

    „Das Selbst muss erkannt werden, liebe Maitreyī. Höre über das Selbst, denke über das Selbst nach, versenke dich in Andacht an das Selbst. Wer, oh Geliebte, durch Hören, Nachdenken und in der Versenkung das Selbst erkannt hat, der erkennt alles.“
    Der Dreischritt der Schulungsphasen wird hier erwähnt, nämlich:
    1. śruti (hören)
    2. manana (reflektieren, meditieren (im eigentlichen Sinne von Analysieren, durchdenken)
    3.nididhyāsana (Kontemplation)

    Hören ist immer der Beginn des hier aufgezeigten Spiritualweges. Die Upaniṣad benennt nach dem Hören noch zwei weitere Stufen, nämlich die Meditation (manana) und als Abschluss die Kontemplation (nididhyāsana), welche dann im sādhana gipfelt.
    Das Gehörte wird in der Meditationsstufe durchdacht, reflektiert, analysiert, genau untersucht und in jeder Einzelheit betrachtet. Hier wird Visualisiert, identifiziert und es werden Bezüge hergestellt, Wissen erfahren, Strukturen erkannt und verinnerlicht. Auf der Stufe der Kontemplation wird das vorher Analysierte (Auseinandergenommene) dann wieder zusammengebracht. Aus der Vielheit der betrachteten Aspekte wird wieder Eines gemacht. Die Vielheit der Welt wird zu Einem.
    Denken ist auf der einen Ebene ein Analysieren, ein auseinander nehmendes Betrachten. Nach dem Betrachten kommt ein Ordnen des Betrachteten, welches zum Ziel eine Erkenntnis hat, ein Verstehen, ein Be-greifen. Die letzte Ebene ist das Erstellen von allgemeingültigen Aussagen. Das ist der Weg der Wissenschaft. Die Idee dahinter ist natürlich, dass man immer und überall Aussagen über die Welt machen kann, dass man aber viel mehr noch Aussagen über zukünftiges Geschehen machen kann.
    Das Denken ist aber noch viel mehr, als nur diese platte Form des Betrachtens. In der indischen Logik, im Nyaya wird diese Form des Denkens zur Kategorie des buddhi gezählt, was man mit Intellekt übersetzen kann. Die Erkenntnismittel, welche diese Form des Denkens hat sind dreifach: empirisch/sinnliche Wahrnehmung (pratyakṣa), Schlussfolgerung (anumāna), Vergleich (upamāna) und verbale Mitteilung (śabda). Eines dieser Erkenntnismittel hat jedoch eine besondere Qualität, denn sie führt zu einer anderen Ebene des Denkens, nämlich dem Reflektieren. Gemeint ist die Schlussfolgerung (anumāna). Das reflektierende Denken hat als Arbeitsmittel die Logik. Und Logik ist nicht beliebig oder irgendeine Logik, sondern wir haben nur eine einzige Logik, und das ist die zweiwertige Logik. In der praktischen Anwendung heißt das, dass eine Aussage entweder wahr ist, falsch ist und dass es neben diesen beiden Möglichkeiten keine andere Möglichkeit gibt (tertium non datur!).
    Und diesem Sinne ist das höhere Denken, das von den Nyaya-Lehrern der Kategorie des manas zugerechnet wird, was man mit Geist übersetzt, mehr als nur ein betrachtendes intellektuelles Geschehen. Reflektierendes Denken ist eine Möglichkeit, Befreiung zu erlangen. Und eben deswegen hat Denken genauso Lebensenergie wie Fühlen, auch wenn das für einen Gefühlsmenschen unvorstellbar ist. Denken passiert ebenso wie das Fühlen nur im Hier und Jetzt. Das liegt schon daran, dass es ja einen geben muss, der da denkt oder fühlt. Aber beide Geschehnisse können sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft erreichen, denn man kann sich nicht nur über etwas Zukünftiges freuen (im Hier und Jetzt!), sondern man kann auch etwas Zukünftiges planen oder durchdenken (auch nur im Hier und Jetzt!).
    Wie schon angedeutet: Es gibt keine besondere Stellung des einen Seelenteils – um diese platonische Ausdrucksweise hier zu verwenden – gegenüber einem anderen. Sie sind alle drei Bestandteil des Menschen, sie bedingen sich gegenseitig und sie sind nicht voneinander ableitbar. Dass natürlich jeder seinen „Schwerpunkt“ wo anders hat, bringt schon die Situation des in-der-Welt-Seins mit sich, denn in der Welt zu sein heißt, bedingt, verstrickt und bezogen auf anderes zu sein. Und dieser Zustand hat immer etwas mit Ungleichgewicht zu tun, denn erst das Ungleichgewicht der Gunas führte ja nach der Idee der Samkhyas zur Schöpfung. Und so kommt es, dass wir da pragmatisch, handelnde menschen haben, gefühlsmäßig und emotionale Menschen und rationale, „logische“ Menschen. Oder um es mit einem Bild aus Star Trek zu sagen: Nicht jeder ist ein Mr. Spock, ein Kapitän Kirk oder ein Doktor McCoy!
    Spiritualität ist nicht Fühlen.
    Ja, dem kann ich zustimmen, jedoch aus einer anderen Argumentation heraus:
    Fühlen ist immer ein Fühlen von etwas. Ebenso, wie Denken immer das Denken von etwas ist. Ein Fühlen, das kein Objekt vor sich hat, auf welches dieses Gefühl gerichtet ist, oder das diese Gefühle induziert, ist nicht möglich. Ebenso das Denken; Denken tun wir immer etwas. Es gibt da den Gedanken, der gedacht wird. Wenn man Spiritualität ernst nimmt, und das Ziel der Spiritualität als Transzendenz auffasst – und ich denke, hier sind wir uns auch einig – dann kann Transzendenz weder gedacht, noch gefühlt werden, denn sonst wäre die Transzendenz ja etwas Objekthaftes, ein Gegenüber, und somit eines von unzählig vielen, und deshalb bedingten, also in Raum und Zeit verstrickten Dinge. Aber das in Raum und Zeit befindliche/verstrickte Objekt kann dann niemals transzendent sein, denn es wäre ja von selber Art, wie all die anderen Dinge, die wir durch irgendeines unserer Sinne perzipieren.
    Du erwähnst hier die Dreiteilung von Körper, Geist und Seele. Für diese Erwähnung bin ich dir in sofern dankbar, als dass hier eben wieder exakt die drei Seelenfunktionen in ihrer gröbsten Manifestation umrissen werden. Der Körper, der für das handeln zuständig ist, mit dem wir etwas anpacken und schaffen können, der Geist, der dem Denken zugeordnet wird und die Seele, die das gefühlsmäßige beheimatet. Und auch die vierte Ebene passt hier gut hin, denn die Staffelung von Weltwirklichkeit in vier Bereich ist ein Modell, das sich in jeder guten Philosophie finden lässt, angefangen in der vedischen Tradition (vgl. hier die vier Bewusstseinszustände nach Mandukya-Upanishad), weitergehend in der buddhistischen Tradition (z.B. Vasubandhus Hyposthasen-Modell), oder auch die Modelle von Plotin, Nicolaus Cusanus und viele mehr.
    Und den Rest deiner Ausführung in diesem Abschnitt kann ich nur unterstreichen!
    Emotionen sind auch die Essenz der spirituellen Sphäre.
    Nur eine kurze Bemerkung: Du schreibst: „… und im Buddhismus sogar das Selbst Illusion … [ist]“
    Nein, das lehrt der Buddhismus nicht. Wenn du Nagarjuna liest, oder Vasubandhus Trisvabhava-Karika, dann würdest du wissen, dass nur eine gewisse Gruppe innerhalb des Buddhismus das Selbst leugnet. Aber schon innerhalb des Buddhismus wurde an diese Leute die Frage gestellt: Wenn da kein Selbst ist, wer oder was erlangt dann Nirvana? Wer oder was erntet das Karma der Handlungen?
    Ich kenne seit vielen Jahren die Art, wie man mit anderen Lehren umgeht. Ich weiß um den fast schon fanatischen Hass, bzw. um die fanatische Angst, welche die Vaishnavas gegenüber den so genannten Mayavadis haben. Ich weiß deshalb auch, dass das wirklich gesicherte Wissen der einen Gruppe über die andere meist spärlich ist, oftmals falsch ist, in der Regel nie überprüft wurde und dass aus diesem Grunde Vorstellungen von „den Anderen“ kursieren, die mehr als kurios sind. Ich weiß leider, dass diese Vorurteile – und was anderes ist das nicht! – seit Generationen gepflegt werden und immer wieder aufs Neue fest zementiert werden und als Feindbild unter die Leute gebracht werden. Ich finde es schade, wenn ein freier Geist, wie du es bist, eben dasselbe macht. Hüte dich vor Halbwissen, gehe ihm aus dem Weg und folge ihm nie.
    Das Leben selbst ist das Spirituelle.
    Auch hier kann ich dir in einem gewissen Sinn Recht geben. Im Framework des Bhakti ist das, was du hier geschrieben hast absolut richtig! Im Framework des Jnana kommt man zu demselben Ergebnis. Ich kann dir das am Beispiel des buddhistischen Philosophen Nagarjuna (vom dem Shankara übrigens ganz viel „geklaut“ hat) demonstrieren: In seiner Mulamadhyamika-Karika gibt es folgende Aussage:
    na saṃsārasya nirvāṇāt kiṃcid asti viśeṣaṇam |
    na nirvāṇasya saṃsārāt kiṃcid asti viśeṣaṇam || MMK_25,19
    Es ist nicht irgendwelcher Unterschied des saṃsāra vom nirvāṇa,
    Es ist nicht irgendwelcher Unterschied des nirvāṇa vom saṃsāra. (XXV.19.)
    nirvāṇasya ca yā koṭiḥ koṭiḥ saṃsaraṇasya ca |
    na tayor antaraṃ kiṃcit susūkṣmam api vidyate || MMK_25,20
    Die Grenze (koṭi) des nirvāṇa ist die Grenze des saṃsāra;
    Zwischen diesen beiden existiert auch nicht der geringste Unterschied. (XXV.20.)
    paraṃ nirodhād antādyāḥ śāśvatādyāś ca dṛṣṭayaḥ |
    nirvāṇam aparāntaṃ ca pūrvāntaṃ ca samāśritāḥ || MMK_25,21
    Die Ansichten (dṛṣṭi) von ”nach dem nirvāṇa“, ”Ende“ usw., ”ewig“ usw.
    Sind abhängig von nirvāṇa, späterem Ende (aparānta) und früherem Ende (pūrvānta). (XXV.21.)
    śūnyeṣu sarvadharmeṣu kim anantaṃ kim antavat |
    kim anantam antavac ca nānantaṃ nāntavac ca kim || MMK_25,22
    Wenn alle dharmas (Objekte) leer sind, was ist mit Grenze? was ist ohne Grenze?
    Was ist mit und ohne Grenze? was ist weder mit noch ohne Grenze? (XXV.22.)
    kiṃ tad eva kim anyat kiṃ śāśvataṃ kim aśāśvatam |
    aśāśvataṃ śāśvataṃ ca kiṃ vā nobhayam apy atha || MMK_25,23
    Was ist eben dieses? was ist anderes? was ist ewig? was ist nicht-ewig?
    Was ist beides, ewig und nicht-ewig? Was ist auch beides nicht? (XXV.23.)
    sarvopalambhopaśamaḥ prapañcopaśamaḥ śivaḥ |
    na kva cit kasyacit kaścid dharmo buddhena deśitaḥ || MMK_25,24
    Alles Wahrgenommene (tibetisch dmigs pa) ist erloschen (eig. beruhigt), die Entfaltung (prapañca) ist
    still (und) ruhig.
    Nicht ist irgendwo irgendwem durch Buddha der dharma (Lehre) dargelegt worden (deśita). (XXV.24.)
    Eine extrem radikale Aussage, wenn man postuliert, dass Nirvana und Samsara eines sind. Jedoch keine Aussage, die ungewöhnlich wäre, denn im Platonismus findet man exakt das selbe, in den Shaiva-Traditionen Kaschmirs findet man genau das selbe, bei den Neuplatonikern findet man exakt das selbe, bei den großen Philosophen der Katholiken findet man genau das selbe (nämlich Bei Meister Eckhardt oder bei Cusanus), bei den Vedantins findet man genau das selbe, nur bei denen, die sich nicht der Dialektik, der Reflexion hingeben, findet man so etwas nicht. Diese bleiben stehen in dualistischen Weltbildern (Frameworks) und merken nicht einmal, wie sie ein paradoxes Leben mit paradoxen Erklärungen und paradoxen Bildern von der Welt leben. Verstehe mich nicht falsch, ich will dich nicht angreifen, so wie man einst Madhvacharya – zu Recht! – angegriffen hat, sondern ich will dich einfach auffordern, es einer Person gleichzutun, die mal von sich gesagt hat, dass sie alles, an das sie geglaubt hat, überprüfen müsse und erst einmal wegtun muss. Denn da ist nichts, dessen er sich wirklich sicher sein kann.
    In der Tat, das Leben ist Spiritualität, jedoch gehört zu dieser Sicht nicht nur einfach, dass man das irgendwie glaubt, oder ständig vor sich her murmelt, sondern dazu gehört, dass man, um es mit Platon zu sagen, seine durch und durch verrückte (atopos) Stellung in der Höhle verlässt, nach oben geht, auf dem weg dorthin das einfache Denken (buddhi) erlernt (das ist im Höhlengleichnis die Mauer und das Feuer, vor welchem die Gegenstände hin und her getragen werden), in die Welt der reinen Ideen gelangt, mittels Dialektik auch diese noch zum stillstand bringt, und sie verwehen lässt (nirvana = griechisch galene oder mit den Worten des Yoga-Sutras: citta vritti nirodhaha) und in der letzten Konsequenz alles Bildhafte eliminiert (das ist der Blicke in die Sonne, denn da sieht man gar nichts!).
    Auf welchem Weg dies geschieht, ob das bhaktihaft geschieht, jnanahaft oder durch karma-yoga, ist egal. Wichtig ist nur, dass es geschieht. Und wenn dies dann geschehen ist, dann ist die Gleichheit und Nichtverschiedenheit von Samsara und Nirvana erfahrbare Realität und nicht einfach nur heilsideologische Theorie.
    Aber an dieser Stelle machen dann auch Argumente für und gegen Mayavadis, Advaitins, Buddhisten, Dualisten, Vaishnavas, und was es sonst noch alles gibt, keinen Sinn mehr, denn man erkennt, was wirklich ist.
    In der Heilung der Gefühle/Emotionen wird die Erleuchtung erreicht.
    Die primäre Richtung der Liebe ist das Nehmen der Liebe.
    Was du hier geschrieben hast, ist im Rahmen des Frameworks einer theistischen Bhaktitradition sicher richtig und wunderbar beschrieben. Man darf jedoch nicht vergessen: Es ist nur ein Framework neben vielen (etwa dem meinen). Irgendeines dieser Frameworks absolut zu setzen, würde bedeuten, man behaupte, dass die Landkarte mit der Realität identisch wäre. Das ist aber nicht so. Die Landkarte ist immer ein Stück Papier, und die Realität ist eben die Straße, der Weg, der Sand, die Steine, der Wind, usw..
    Es gibt gewiss Landkarten, die dem einen liegen, und dem anderen nicht. Eine Karte aus Google-Maps hat ihren Sinn, ich komme damit zurecht, und finde sie praktisch, klasse und treffend, weil sie mich zum Ziel führt. Die Strichzeichnung auf einem abgerissenen Zettel, die vielleicht mein Nachbar bevorzugt, ist nichts für mich. Ihr fehlt es an Struktur, an Detailtreue, an Genauigkeit; aber mein Nachbar mag sie. Er hasst die exakten Karten aus Google-Maps. Ja, und meine Freundin, ist zufrieden, wenn sie eine Beschreibung bekommt, in der Details auftauchen, die mich nie interessieren würden: „Das blaue Haus, und dann zwei Straßen weiter, da ist dann ein großer Baum, eine Eiche…“ Das gibt es in Google-Maps nicht, aber dennoch ist auch diese Beschreibung zielführend – für sie! Wer möchte jetzt sagen, welche Beschreibung die bessere wäre? Kann man das überhaupt?
    Und so ist es auch mit Bhakti und Jnana: Der gefühls-Mensch kann mit Jnana nichts anfangen; zu trocken, zu leblos, zu abstrakt! Der Kognitionsmensch kann mit Bhakti nichts anfangen: Zu emotional, zu unlogisch, zu flippig!
    Der Weise hingegen erkennt in beiden Formen der Spiritualität das selbe Grundmuster und die Idee dahinter, dass beides nur Landkarten sind, die nur ein einziges Ziel haben, nämlich zum Ziel zu führen. Und dort angelangt, brauchen wir die Karte nicht mehr. Buddha hat ein schönes Beispiel dafür gegeben: Wenn wir einen Fluß überqueren wollen, dann können wir eine Brücke suchen und drüberlaufen. Wir können auch drüberschwimmen. Wir können aber auch ein Boot benutzen. Aber kein normaler Mensch würde nach Überquerung des Flusses das Boot weiterhin mit sich rumschleppen. Es nimmt ja auch keiner die Brücke mit, oder macht an der anderen Seite an Land die Schwimmbewegungen weiter. Und so sind die Landkarten ein Mittel zu einem höheren Zweck. Niemals identisch mit dem Ziel, aber das Ziel abbildend.
    Om tat sat!

    • Lieber Heiko,

      danke für Deinen ausführlichen Kommentar zu meinem Blog. Ich musste erst einmal die Zeit finden, ihn zu lesen und auch zu antworten.
      Zunächst bin ich mal ziemlich traurig darüber, wie sich das Denken doch so unendlich verzweigt und man kaum zwei gleichen Ansichten zu finden vermag. Wieviel Text da generiert wird. Wieviele logische Schlüsse und Argumente da hervorgebracht werden. Vielleicht wäre es wirklich besser, ganz mit dem Denken aufzuhören.
      Deine logische Antwort ist ja ganz aus dem Denken genommen und ziemlich komplex.
      Meine Grundfrage ist immer noch die gleiche: Was ist zuerst? Das Denken oder das Fühlen. Was ist näher am Wesen des Menschen? Ist der Mensch ein Fühlender oder ein Denkender?
      Wenn ich dich richtig verstehe, ist das für Dich alles gleichzeitig. Und man soll es nicht gegeneinander ausspielen, denn dann sind es nur „frameworks“. Wenn ich Dich frage, was ist der Unterschied zwischen einem Apfel und einem Apfelbaum? Wirst du dann auch sagen: keiner? Kannst du in dem Stamm beißen und ihn essen?
      Kann ich den Baum aus dem Boden reißen und umgekehrt wieder einpflanzen, mit den Wurzeln nach oben und den Zweigen und Blättern unter der Erde? Wird das funktionieren? Ich glaube nicht. Es ist einfach so: Die Wurzeln sind unten innen, die Blätter sind oben außen.
      In gleicher Weise ist auch zu untersuchen, was an den Wurzeln des menschlichen Lebens liegt. Die Reduzierung auf Bewusstsein halte ich nicht für ausreichend. Greifen diese Vergleiche nicht wirklich? Ist der Baum nur eine Illusion? Die Reduzierung der Wirklichkeit auf eine raum- und zeitlose „Form“ halte ich ebenfalls für unzulänglich. Deshalb schrieb ich: „Alle diese spirituellen Dispositionen sind für den Menschen relevant, was bedeutet, dass die menschliche Disposition systemisch über den spirituellen Dispositionen steht und diese bestimmt. Deshalb ist die Priorität der Emotionen auch für die spirituelle Sphäre gegeben.“ Das war vielleicht etwas kryptisch, aber eine wichtige Stelle. Neu ist in diesem Verständnis die Priorität der menschlichen Form (die spirituellen Dispositionen sind

        für den Menschen

      relevant), die in den alten prä-egoischen Traditionen erkenntnistheoretisch nicht erfasst wurde. Die Kategorie des Menschen fehlt in allen diesen Traditionen als konstituierende Kategorie. Wenn, dann taucht die menschliche Form als Illusion oder abhängiges Entstandenes auf, also als Nicht-Wahres, Zeitweiliges. Ergänzend möchte ich einräumen, dass es einen raum- und zeitlosen Zustand wohl tatsächlich gibt bzw. geben könnte. Aber er ist nur ein Teilbereich und nicht die ultimative Wahrheit oder Wirklichkeit.
      Die Bildhaftigkeit von oben-unten und innen-außen, von Wurzel und Blatt u.ä. Analogien ist deshalb möglich, weil die Wirklichkeit so strukturiert ist, nämlich nicht-monistisch.

      Du schreibst:
      »Und Logik ist nicht beliebig oder irgendeine Logik, sondern wir haben nur eine einzige Logik, und das ist die zweiwertige Logik. In der praktischen Anwendung heißt das, dass eine Aussage entweder wahr ist, falsch ist und dass es neben diesen beiden Möglichkeiten keine andere Möglichkeit gibt (tertium non datur!).«
      Mein Kommentar dazu: Hier zeigt sich deine Immanenz zur Logik, aus der heraus der ganze Text geschrieben ist. Erstens gibt es ein Wahrnehmung außerhalb des Denken, und eine Welt außerhalb des Denkens. Zweitens gibt es eine nicht-aristotelische Logik. Das ist sehr wichtig. Die aristotelische oder generell die zweiwertige Logik ist nur eine Spezialform. Der Kybernetiker und Philosoph Gotthard Günther hat auf die Formulierbarkeit einer mehrwertigen Logik hingewiesen. Sein Werk ist leider immer noch sehr unbekannt. Ich habe es in Tattva Viveka 17 unter dem Titel: »Das Bewusstsein der Maschinen« vorgestellt.
      Ich habe an meinem eigenen Leben einfach erlebt, dass Fühlen etwas anderes ist als Denken. Und dass der Sinn meines Lebens nicht darin besteht, zu denken. Als Mensch und als Seele habe ich das Bedürfnis nach Verbundenheit, nach Nähe, nach Liebe. Das ganze Denken ist dafür nur eine Medikation, um den Schmerz über die Trennung zu betäuben.

      Du schreibst:
      »Reflektierendes Denken ist eine Möglichkeit, Befreiung zu erlangen.«
      Mein Kommentar: Diese Befreiung ist abstrakt. Außerdem geht es im Leben nicht um Befreiung. Das ist ein Irrtum der Buddhisten und Vedantins, also der Jnanis. Je mehr du nach Freiheit strebst, umso gefangener bist du.

      Du schreibst:
      »Und eben deswegen hat Denken genauso Lebensenergie wie Fühlen, auch wenn das für einen Gefühlsmenschen unvorstellbar ist. Denken passiert ebenso wie das Fühlen nur im Hier und Jetzt. Das liegt schon daran, dass es ja einen geben muss, der da denkt oder fühlt. Aber beide Geschehnisse können sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft erreichen, denn man kann sich nicht nur über etwas Zukünftiges freuen (im Hier und Jetzt!), sondern man kann auch etwas Zukünftiges planen oder durchdenken (auch nur im Hier und Jetzt!).«
      Mein Kommentar: Nein, das sehe ich nicht so. Denken hat keine Lebensenergie. Das kann man fühlen. Denken ist nicht im Hier und Jetzt. Es ist immer davor oder danach. Wenn man sich über etwas Zukünftiges freut, dann sind das sekundäre, mental induzierte Gefühle. Man freut sich über eine Vorstellung. Das kann auch okay sein. Ich bin eh der Ansicht, dass auch die Vergangenheit und die Zukunft zu einem schönen Leben gehören. Dennoch muss das von der Gegenwart unterschieden werden. Ebenso gehört rechtes Denken zu einem schönen, guten, wahren Leben. Und auch das muss vom Gefühl unterschieden werden.
      ich finde einfach, das Gefühl wird verkannt. Das verletzte Selbst geht in den Widerstand und konstruiert ein strategisches Selbst, um den Schmerz, die Angst und die Wertlosigkeit nicht zu fühlen. Daraus entstehen die Glaubenssysteme.

      Du schreibst:
      »denn in der Welt zu sein heißt, bedingt, verstrickt und bezogen auf anderes zu sein.«
      Mein Kommentar: Bedingt und verstrickt: das ist das alte Paradigma des Fernen Ostens. Alle Bezogenheit ist negativ. Ich glaube das nicht mehr. Die Realität ist vielmehr, dass wir immer Bezogene sind. 1+1=2; 1+1+1=3 usw. Das ist schon eine Beziehung. Warum lehnen diese Einheitsdenker das ab?

      Du schreibst:
      »Ich kenne seit vielen Jahren die Art, wie man mit anderen Lehren umgeht. Ich weiß um den fast schon fanatischen Hass, bzw. um die fanatische Angst, welche die Vaishnavas gegenüber den so genannten Mayavadis haben.«

      Ich stimme ja mit dir überein, dass es nicht darum geht, fanatisch zu sein. Wir kennen uns schon viele Jahre und früher war ich ein fanatischer Bhakti-Anhänger. Das stimmt. Aber ich habe mich davon schon lange entfernt. Ich sehe auch die Probleme in einer ideologischen Herangehensweise an Bhakti. Ich bin auch nicht mehr auf die vedische oder fernöstliche Spiritualität geeicht. ich habe mich davon schon lange entfernt. Es ist nicht notwendig, dass du mich als Vaisnava oder Bhakta adressierst. Das ist eine Schublade, die mir zu klein ist.
      Ich halte von diesen ganzen buddhistischen und hinduistischen Konzepten nur noch bedingt etwas. Sie sind in ihren Gebieten sicherlich weit gekommen. Es sind Überlieferungen, die Jahrtausende alt sind.
      Ich glaube, wir brauchen etwas ganz Neues. Wir sind nicht mehr in diesem alten Zeitalter. Es ist vorbei. Wir müssen neu bestimmen, was was ist.
      Ich kenne diese ganzen Theorien und Systeme, Nyaya, Upanischaden, Bhagavad-gita. Ja, ja. Habe ich 18 Jahre lang studiert. Diese Überlieferungen sind leider nicht ausreichend, um die Wahrheit unseres Seins und Werdens zu bestimmen.
      Mit Logik (anumana) wird es sicherlich auch nicht getan sein.
      Nochmal zum Baum:
      Die primären Gefühle sind die Wurzeln. Der Stamm und die Äste sind die primären Gedanken. Die Blätter und Früchte sind die sekundären Gefühle, die sekundären Gedanken, der Wille und die Handlungen.
      Vielleicht ist Dir das, was ich jetzt so geschrieben habe, zu unfreundlich oder zu feindselig. Aber es geht mir nicht um Harmonie. Versteckte Harmoniesucht (Angst vor Getrenntheit) führt zu ideologischen Gedanken. Echte Wahrheitssuche hält die Gefühle aus, die da sind. Auch wenn die sogenannt »negativ« sind.

  6. Michael Obergfell schreibt:

    Lieber Herr Engert,

    vielen Dank für den mutigen Artikel in Ihrer Zeitschrift. Ich denke sie sprechen ein zentrales und wichtiges Thema an, welches im spirituellen Leben leider manchmal zu kurz kommt, nämlich „authentische Spiritualität“.

    Eine Ihrer zentralen Thesen ist, soweit ich es richtig verstanden habe: „Denken ist immer Nach-Denken. Daher kommen Gefühle immer vor dem Denken.“ Hierzu möchte ich ein vereinfachtes Modell zeichnen, um meine Gedanken zu diesem Thema deutlich zu machen.

    Ist Denken immer Nach-Denken? So einfach ist die Lage vermutlich nicht. Als junger Mensch kurz vor dem Abitur hatte ich das Problem, dass ich für begriffliches Denken ganz offensichtlich Sprache benötige, ganz einfach deshalb, weil ich Begriffe ohne Sprache im Kopf nicht denken kann, es ist schlicht unmöglich. Also kam ich auf die bizarre Hypothese, dass mein Denken durch die Zunge zustande kommt. Damit sitzt man aber in der merkwürdigen Situation, dass man sich fragt: Wie kommt die Zunge zum Begriff? Dazu brauche ich nun wieder das Gehirn, welches denkt. Es war für mich eine schier unlösbare Aufgabe und ich muss zugeben, ich scheiterte noch vor dem Abitur damit, dieses Paradoxon mit der Zunge zu lösen.

    Später in der meditativen Praxis fiel für mich der Groschen, und ich fand einen Ausweg. Es gibt in der Tat ein vorsprachliches Denken, und das ist das bildhafte Denken. Das Gehirn ist in der Lage, Bilder aus der Außenwelt aufzunehmen und zu visualisieren. Am deutlichsten sieht man diese Fähigkeit im Traum, der ja zumeist auf Bildern beruht. Ein Traum, wie auch eine direkte Wahrnehmung kommen ohne begriffliches Denken aus. Ich muss nicht denken „Haus“, es genügt wenn ich es bildhaft denke und im Kopf rekapituliere. Bilderfolgen sind in der Meditation ja ein bekannter Anfangseffekt, auch bei geschlossenen Augen. Also beginnt das Denken mit dem Auge. Das Problem schien gelöst. Erst gucken, dann Zunge machen. 😉

    Nun steckt leider auch hinter der Wahrnehmung ein „Konstrukt“, eine Zusammensetzung, eine geistige Leistung. Bei Piaget stößt man darauf, dass Kleinkinder geometrische Formen nicht als solche wahrnehmen. Es fehlt in deren Wahrnehmung das Abstraktionsvermögen. Abstraktionsvermögen ist die Fähigkeit, Details weg zu lassen und die dahinter stehende „Gestalt“ zu erkennen. Wenn sie Blätter so anordnen dass es einem Gesicht gleicht, sehen sie ein Gesicht, obgleich da nur Blätter sind. Das bedeutet, das Gehirn hat die Fähigkeit, nicht nur unmittelbar wahr zu nehmen, sondern sich wiederholende Muster heraus zu filtern und daraus ein Symbol / eine Gestalt zu erstellen, vermutlich durch pure Wiederholung. Mit Lauten begleitet wird dem Symbol ein Wort zugeordnet und bei entsprechendem Abstraktionsniveau wird daraus ein sprachlicher Begriff wie zum Beispiel „Gesicht“, welches auch dann als solches gedacht werden kann, wenn es nur aus Blättern besteht oder nur rein begrifflich existiert, also ohne konkretes Bild. Eine Erläuterung dieser Stationen anhand platonischer, aristotelischer, kantischer oder sonstiger Philosophie erspare ich mir hier.

    Man kann generell sagen, dass das Denken aus der Wahrnehmung mit den Sinnen, dem Abstraktionsvermögen des Gehirns und der Sprache entsteht. Angewendet auf Gefühle bedeutet dies, um ein Gefühl denken zu können, benötige ich ein körperliches, inneres Sensorium, welches mir dieses Gefühl anzeigt (z.B. „Angst“, „Freude“, „Wut“, „Trauer“). Durch die Verarbeitung im Gehirn durch wiederholte Erfahrung bildet sich ein Reaktionsmuster heraus, welches durch zugeordnete Sprache begrifflich gefasst werden kann. Am Ende des Prozesses steht dann der Begriff „Angst“, oder der Begriff „Freude“ und jeder weiß, je auf seine Weise, von welchem Gefühl gerade gesprochen wird und welchem Begriff dieses Gefühl zugeordnet wird. Ein Gefühl zu DENKEN ist immer reaktiv. Zuerst kommt das Gefühl, dann die Wahrnehmung und wenn diese bekannt ist, wird der Begriff dazu aus dem Bewusstsein gezogen, d. h. das Gefühl wird reflektiert. In diesem Sinne haben sie mit Ihrer Hypothese wohl recht, vor dem Gedanken kommt das Gefühl.

    Nun stellt sich aber die Frage, woher kommt das Gefühl? Gibt es Angst ohne einen Angstauslöser? Gibt es Freude ohne einen Freudenauslöser? Gibt es Wut ohne einen Wutauslöser? Sicherlich gibt es einzelne, pathologische Formen wie z. B. in der Neurose, in der Angst nicht mehr einem Auslöser zugeordnet werden kann, sondern ein komplexes Vermeidungsverhalten auslöst, das der Neurotiker selbst nicht mehr der Angstursache zuordnen kann. Scheinbar grundlose Freude unter der Dusche würde ich nicht unbedingt allein der Dusche zuschreiben wollen, denn mir ist bewusst dass das geträllerte Liedchen durchaus viele Ursachen haben kann und diese nicht wirklich zuzuordnen sind. Bei der Wut finde ich liegt die Sache einfacher. Haben sie schon einmal einen grundlos wütenden Menschen gesehen? Ich konnte diese Erfahrung bisher nicht machen, mir ist kein Fall bekannt.

    Der überwältigend häufige, nicht pathologische Normalfall aber, bei dem Menschen Emotionen haben ist der, dass dem Gefühl ein Auslöser voraus geht, der auch bewusst ist. Als Kind hatte ich panische Angst vor Nachbars Hund, wenn ich ein tragisches Theaterstück sehe, bin ich traurig, wenn ich meine Freundin sehe empfinde ich Freude, und wenn mich mein Kollege dumm anmacht empfinde ich Ärger oder Wut. Insofern stimmt die Behauptung dass Gefühle reaktiv sind. Natürlich bedarf es des NACH – DENKENS, um festzustellen dass man das Gefühl hat und wenn man richtig nachdenkt, erkennt man auch, was das Gefühl jeweils auslöst.

    An diesem Punkt nun kommt man zu der nächsten Stufe des „Nachdenkens“. Wenn ich Angst vor dem Hund habe und darüber nachdenke, kann ich durch Vorstellungskraft auf den Gedanken kommen, dass ich besser nicht an der Hundehütte vorbei laufe. So vermeide ich die Angst vor dem Hund, indem ich ihn nicht mehr treffe! Denken ist nicht nur NACH – DENKEN, sondern auch Probehandeln. Mit dem Denken kann ich planen. Positiv gewendet: wenn ich eine Frau treffe und dabei Freude habe und darüber „NACH-DENKE“, dann könnte ich eine Strategie entwickeln, diese möglichst schnell wieder zu treffen. Beispielsweise weiß ich, mittags um 4 Uhr geht sie beim Bäcker vorbei und mit meinen fitten Gedanken im Hirn komme ich zu dem Schluss, dass ich das ja dann auch machen könnte! 🙂

    Denken ist einerseits Nachdenken, andererseits Probehandeln. Und daraus entwickelt sich nun der eigentliche Punkt der Verwirrung. Wenn Probehandeln ein dauerhaftes Handlungsmuster zur Folge hat, kann dies unter bestimmten Umständen recht problematisch werden. Normalerweise reagieren wir Menschen so, dass wir eine einmal erfolgreiche Handlung so oft wiederholen dass sie zur Gewohnheit wird. Sie wiederholt sich praktisch immer wieder und muss nicht mehr reflektiert werden. Beispielsweise gehe ich nicht mehr an der Hundehütte vorbei, treffe den Hund nicht mehr und habe meine Ruhe. Prima! Das wiederhole ich. Oft genug getan überlege ich nicht mehr sondern gehe automatisch den Weg, der nicht zur Hundehütte führt. Nun ist der Hund womöglich schon gestorben, nur weiß ich das nicht (ich gehe ja nie diesen Weg am Hund vorbei!) und gehe immer noch den Umweg. Das an sich ist nicht problematisch. Aber wenn beispielsweise jemand bestimmte Erfahrungen vermeiden will und ein sehr komplexes Gebilde von Vermeidungshandlungen rund um eine schmerzliche Erfahrung macht, dann kann dies sehr problematisch werden. Vielleicht verlässt er die Wohnung nicht mehr, oder kommt nicht mehr hinter seinen Büchern hervor. Theoretisch kann jedes Verhalten jedes Problem vermeiden helfen.

    Für mich war zu diesem Thema eine Stelle aus Sartre’s „Der Idiot der Familie“ ein Leseereignis, welches noch heute in meinem Kalender dick angestrichen ist. Sartre schrieb über den Neurotiker sinngemäß: Der Neurotiker hat Angst vor dem Leben und vermeidet es. Dafür bezahlt er den Preis, dass er nicht mehr lebt. Und die Lösung dieses Problems besteht nicht in der Analyse, sondern darin, dass er sein Leben wieder lebt und seinen Schmerz, den er zu vermeiden versucht, durchlebt. … Ich finde diese Formulierung ist der absolute Volltreffer, in gewisser Weise. 🙂

    Da der Mensch sein Nachdenken auf die Zukunft projizieren kann, ist er in der Lage, aufgrund bewusster oder verdrängter Erfahrungen einen Gefühlsauslöser spezifisch zu interpretieren. Er bringt Voraussetzungen mit und ist praktisch nie ein unbeschriebenes Blatt. Dumm nur, dass ihm nicht alle Voraussetzungen bewusst sind, die er mitbringt. Und so können dieselben Ereignisse, bei unterschiedlichen Menschen jeweils andere Gefühle auslösen und an genau dieser Stelle beginnt der wahre Irrgarten. Menschen sind in Bezug auf ihre Gfühle nicht nur reaktiv, indem sie nachdenken, sie sind auch aktiv, weil sie Erfahrungen und Gefühlsmuster mitbringen, auch wenn sie dies nicht immer wissen. Genau das ist neben Gefühl und Denken die dritte Kategorie, nämlich das Bewusstsein und sein Schatten, das Unterbewusstsein.
    Ich möchte dies illustrieren an einer wahren Geschichte. Ein Freund von mir war in jungen Jahren sehr arrogant, zynisch, bissig und oftmals für seine Umwelt nur schwer erträglich, ein großer Spötter und kein leichter Zeitgenosse. Er hatte ein Vermeidungsverhalten gegenüber seiner Angst und Unsicherheit, weil er nicht wirklich wusste, wo sein Platz in der Gesellschaft war. Er fand im Spott und im Angriff seine Sicherheit und überspielte damit ziemlich erfolgreich die eigene Unsicherheit. In späteren Jahren, nach einem Studium der Germanistik und Politik, sowie einer langen Odyssee in verschiedenen Berufen fand er tatsächlich einen Weg, seinen Wunsch als Lehrer an einer Privatschule zu verwirklichen. Zudem fand er eine sehr nette Frau und gründete eine Familie. Seine Unsicherheit löste sich auf und damit auch seine Arroganz und sein Spott. Beides war nicht mehr nötig, weil er seine Unsicherheit ablegte. Er hatte seinen Platz gefunden!

    Aus meiner Sicht sind diese beschriebenen Stationen von Gefühl und Denken der Weg zu Authentizität. Ein Gefühl wird ausgelöst, es wird wahrgenommen, darüber nachgedacht, ein Handlungsmuster ersonnen und in die Zukunft projiziert bis es zur Gewohnheit wird. Wenn das Gefühl vermieden werden soll (durch Ersatzhandlungen aller Art) entsteht eine bewusste oder unbewusste Vermeidungsstrategie. Dieses Ungleichgewicht kann nur aufgelöst werden, indem man sich dem vermiedenen Gefühl wieder nähert und es lebt, bzw. eine dauerhafte praktische und nicht nur theoretische Lösung dafür findet, dieses Gefühl richtig in seinen Alltag zu integrieren. Anschließend kann man sich die Vermeidungshandlung sparen. Sie kann wegfallen. Das eigene Handeln, Denken, Fühlen und Handeln passen authentisch zusammen.

    Wie nun dieses Modell auf authentische Spiritualität und authentisches Leben angewendet werden kann ist eine spannende Frage, die aber diesen Beitrag erst einmal sprengen würden. Ich fände es schöner, hier in einen Dialog zu treten und würde gerne Ihre Ansichten zu meinen Gedanken und Erfahrungen kennen lernen.

    Viele Grüße
    Ihr
    Michael

  7. ute seubert schreibt:

    puhh,der Herr Helbig ist seeeehr ausführlich….ich hätte nicht so freundlich schreiben können wie sie Herr Engert……TOLL

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