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Berlin Blog

Gedenktafel zu Berthold Brecht, auf dem Weg zur Beratung

03.09.2010

Gestern war ein ereignisreicher und durchaus heterogener Tag. Zuerst hatte ich einen Termin beim „RKW Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft e. V.“, wo ich eine Beratung für meine Firma erhielt.
Dann war ich am Nollendorfplatz und stolperte zufällig in die Schwulenszene Berlins. Am Abend schließlich besuchte ich das wichtigste Jahresfest der Hare Krishnas, Krishnas Geburtstag.

Was RKW heißt, konnte ich auch nach längerer Recherche auf ihrer Homepage nicht herausfinden. Vielleicht wissen sie es selbst nicht. Jedenfalls geht es um Wirtschafts-Förderung. Sie haben einen neuen Bereich für kulturkreative Projekte gegründet und auch gleich einen Wettbewerb ausgeschrieben, an dem ich teilnehmen werde. Einsendeschluss ist der 12. September. Ich fand das vor ein paar Tagen zufällig in meinem Xing-Postfach, wo ich in einer Gruppe für Fördermittel bin. Ich kann nicht behaupten, dass ich diese Dinge plane. Sie geschehen einfach. Ich bin ein guter Sammler und ich bewege mich gerne in den aktuellen Zusammenhängen des „social media“. Irgendwie bin ich da drüber gestolpert, wie es ja auch eine social bookmark-Seite gibt, die „stumbleupon.com“ heißt. Jedenfalls rief ich gleich an und machte einen Termin mit dem Kulturbeauftragen. Gestern traf ich ihn. Ein sehr netter Mensch, der sich sehr kompetent und wertschätzend meine Situation angehört hat und mir sehr gute Tipps gegeben hat. Wir werden uns auch wieder treffen. Er sagte, ich hätte die richtigen Fragen gestellt und mein Unternehmen (die Tattva Viveka) sei ein idealer Kandidat für ihre Unterstützung. Ich fand einen professionellen Unternehmensfachmann. Wir sprachen über die Möglichkeit eines Investors, mit dem zusammen eine zweite Firma, eine Vermarktungsgesellschaft gegründet werden könnte. Dieser investiert in die Firma, z.B. auch mit der Gegenleistung Werbung in der Tattva Viveka zu bekommen und letztlich an den steigenden Umsätzen beteiligt zu sein. Ziel ist es, die Auflage zu steigern, z.b. auf 30.000 Ex., dafür social media zu nutzen und den Verlag nach Berlin umzusiedeln. Es wird Zeit, die Tattva auf das nächste Level zu heben, aber mit den bisherigen Mitteln geht es nicht weiter. Ich bin bereit und habe Lust, Neues zu wagen und professionell unternehmerisch an die Sache heranzugehen. Dazu gibt es Förderungen für Coaching, hohe Bürgschaften der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) und einen Kreativwettbewerb: http://www.kultur-kreativpiloten.de.
Nach dem Termin war ich richtig begeistert von den neuen Möglichkeiten und der kompetenten Beratung. Schön, dass es sowas gibt. Der Kreativbeauftragte war auch begeistert, denn – so seine Erfahrung – ich sei einer der wenigen aus der kulturkreativen Verlagsbranche, der bisher die neuen Möglichkeiten des Web 2.0 erkannt habe.

Motzstraße / Nollendorfplatz

Ich hatte dann nur noch zwei Stunden Zeit bis zum Krishna-Fest und fuhr deshalb mit der U-Bahn einfach mal an den Nollendorfplatz. Mal schauen, wie es dort aussieht. Es gibt dort viele hochkarätige Antiuquariate. Wahre Fundgruben für Büchernarren wie mich. Ich habe aber nichts gekauft. Ich habe eh schon genug Bücher. Eins, zwei Straßen weiter wunderte ich mich zunehmend über das Publikum in den Straßen. Lauter Männer, alle irgendwie gleich aussehend, bärtig, stylisch, schwarz gekleidet, meistens zu zweit oder zu mehreren, meistens so zwischen 40 und 50 Jahre alt. Ein seltsamer Army-Shop mit Lederkleidung in der Auslage und eindeutig sexuellen Accesoires, Bars usw. Einige Männer starrten mich an. Ich schaute weg, fand das etwas aufdringlich.

Ich kam an einem Friseurladen vorbei, dort arbeiteten auch Frauen. Der Laden schien aber einem Schwulen zu gehören. Ich brauchte dringend einen Haarschnitt und ging rein. Im Wartebereich lauter Schwulen-Magazine und ein Event-Heftchen für einen großen Schwulen- und Lesbentag am Samstag, 4. September, mit einem Grußwort von Wowereit, dem schwulen Oberbürgermeister von Berlin. So von wegen Offenheit und unterschiedliche Lebensstile. Im Heft auf jeder zweiten Seite eindeutige Anzeigen für schnellen Sex, Leder-, Lack- und Gummifetische, Bars, Lederkleidung und reihenweise Bilder von haarigen, oberkörperfreien Männer von den vorangegangenen Events, die sich im Arm hielten usw. Mehrfach gab es auch Master and Slave-Posen zu bewundern, eins oder zwei Jungs auf allen Vieren mit Halsband und Hundeleine und einer, der steht und die Leine hält.
Ich fand es seltsam und wunderlich, was es alles für Welten gibt. Offensichtlich genießen es diese Menschen, so zu sein.

Radha und Krishna werden geschaukelt

Eine Welt ganz anderer Art und ein harter Kontrast war sodenn auch mein dritter Tagesordnungspunkt: die Krishna-Fete. Ich fuhr mit der S-Bahn nach Tempelhof. In einer Seitenstraße im Hinterhof (Neue Straße 21) befindet sich ein kleiner Veranstaltungsraum, der als Treffpunkt der Krishna-Gemeinde genutzt wird. Ein Altar mit den Bildgestalten von Radha und Krishna, sowie Sri Caitanya und Nityananda, und Menschen, die die indischen Bhajans singen. Viele alte Freunde, die ich zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Das war ein großes Hallo. Ich tauchte in die Bhajans ein. Die spirituelle Atmosphäre war spürbar für mich und ich konnte mich relativ gut eintunen. Manchmal kam ich in die Bewertung, aber dankenswerterweise wurden die Bhajans immer besser und ich konnte mich einlassen. Es wurde ekstatischer und freudiger. Ich hörte die altbekannten Tunes in dem besonderen Stil der Gaudiya Vaisnavas der Linie von Narayan Maharaj, der so authentisch indisch rüberkommt, so unwestlich, gleichzeitig mit einem treibenden Beat und doch ganz anders, weich, erherzend. Zwei gute Trommelspieler, ein Harmonium und schöne Melodien brachten mich zum tanzen. Ich kam in einen spirituellen Zustand der Liebe und des Friedens. Ja, es ist schön, für Gott zu singen und zu tanzen. Es ist anders als weltliche Beschäftigung, die für den eigenen Nutzen ausgeführt wird. In diesen Liedern und Zeremonien für Krishna ist man automatisch in eine Beschäftigung eingebunden, die ein Dienst für Gott ist. Das ist einfach eine andere Dimension. Die Herzen der Menschen gingen auf, zumindest meins. Wir badeten Radha und Krishna mit Säften, Honig, Joqurt und Wasser.


Danach wurden sie schön angekleidet und geschaukelt. Das war schon auch wunderlich, eine Runde von vielleicht 30 erwachsenen Personen zu beobachten, die zwei Püppchen auf einer Spielzeugschaukel schaukeln. Aber das sind keine Puppen und das ist kein Spielzeug. Das ist die höchste spirituelle Handlung, die man als Mensch ausführen kann. Behaupte ich jetzt mal so unbegründet.


Ich könnte es begründen, aber dazu müsste ich sehr weit ausholen. Das ist die ernsteste und existentiellste Handlung, die man tun kann. Sie befreit meine Seele und sie lässt mich eine wunderbar süße Liebe zu Göttin-Gott spüren. Ja, das kann man nicht logisch erklären. Das ist eigentlich widersinnig. Irrational. Aber ich konnte es gesternabend wieder fühlen. Es ist eine klare, warme und reine Liebe. Diese Liebe manifestiert sich in diesen Handlungen, nicht im Denken darüber. Die Handlungen sind das Baden, Anziehen und Schaukeln. Was würdest du mit deinen Liebsten machen? Mit deinen Kindern oder deiner/deinem Geliebten? Genau das wird hier für Göttin-Gott getan, für Radha und Krishna. Das ist Religion! Und es ist egal, ob Radha und Krishna hier mit Haut und Knochen gegenwärtig sind, also mit dem physischen Leib. Es geht um die Seele, um unsere spirituelle Essenz, die jenseits von chemischen Elementen und zeitweiligen physischen Formen ist. Es geht um die Essenz. Dass diese Liebe beim Schaukeln dieser Bildgestalten möglich ist, sagt sehr viel aus über die Bauweise der Wirklichkeit. Narayan Maharaj, der spirituelle Meister dieser Linie, wurde einmal gefragt: „Was ist mehr real, das Bild des Meisters oder der Meister selbst?“ Er antwortete: „In der materiellen Welt ist sowohl das Bild als auch die Person Illusion. In der spirituellen Welt ist sowohl das Bild als auch die Person real.“
Bild und Wirklichkeit fallen nur in der Illusion auseinander. In der Wahrheit sind Bild und Wirklichkeit unmittelbar verbunden, sie sind übereinstimmend. Das Problem der Wahrnehmung existiert nur in der Welt der Illusion, die kurzgesagt das umfasst, was nicht mit Göttin-Gott verbunden ist. Je weiter wir uns von Gott entfernen und uns selbst zum Mittelpunkt unserer Motive machen, also egoistische, altruistische, materialistische, zeitweilige Ziele anstreben, desto mehr fallen Bild und Wirklichkeit auseinander. Das Bild wird manipuliert, um die Motive bzw. den Schmerz und die echte Scham, die aus dem Missbrauch entstehen, zu verschleiern. Nur die Handlung für Gott gibt das saubere, reine, cleane Bild. In der Ausführung dieser Handlung erkenne ich automatisch, dass diese Handlung clean ist, denn sie enthält keine egoistischen, altruistischen, materialistischen oder zeitweiligen Ziele. Es muss nichts vertuscht, beschönigt, rationalisiert oder manipuliert werden. So manifestiert sich reine Freude und Liebe. Wir sind halt doch Dienerinnen und Diener Gottes, ob wir wollen oder nicht. Besser, wir akzeptieren es.

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Authentizität, Philosophie, Selbst

Nobody is perfect

Zur Theorie der Vollkommenheit

Viele Menschen leben in einem Paradigma, demzufolge es irgendwie das Ziel ist, vollkommen zu sein oder zu werden. Vollkommenheit wird als gut bewertet, Unvollkommenheit als schlecht. Es gilt irgendwie, zu dieser Vollkommenheit zu gelangen.
Die Wege dahin lassen sich im Großen und Ganzen in zwei unterschiedliche Herangehensweisen unterscheiden:
a) Ich ändere mich, also meine Realität.
b) Ich ändere meine Definition von Vollkommenheit, also die Wahrnehmung meiner Realität.
Die Menschen in diesem Paradigma leiden sehr unter der Vorstellung, nicht vollkommen zu sein. Sie sagen zum Beispiel: „Wie soll ich ein Ebenbild Gottes sein, wenn ich nicht vollkommen bin?“
Da aus dieser Bewertung jedoch ein Schmerz über die eigene Unvollkommenheit entsteht, wird zu der Idee Zuflucht genommen, das ich jetzt und hier schon vollkommen bin, so wie ich bin. Damit wird das Problem aus der Realität (a) in die Wahrnehmung der Realität (b) verlagert. Es ist nur noch eine Frage der Definition. Es ist dann ein Denkfehler, wenn ich mich für unvollkommen halte. In dem Moment, wo ich erkenne, dass ich ja schon vollkommen bin, ist alles gut. Das Problem ist gelöst. Das ist Konstruktivismus.

c) Beide Lösungswege sind disfunktional. Das Problem löst sich in der Annahme der Tatsache, das wir unvollkommen sind und das ist gut so. Es ist einfach die Wahrheit. Wir sind unvollkommen.

zu a)
Dies ist die klassische Version des Paradigmas. Wir sind so, wie wir sind, nicht in Ordnung und müssen besser werden. Es gibt ein Ideal, eine Vollkommenheit, und wir sind selbst noch nicht dort. Wir „sollen“ oder „müssen“ anders werden, uns ändern, uns verbessern.
Hier werden z.b. niederes und höheres Selbst unterschieden, oder das Ego und das absolute Selbst. Das Niedere ist das Schlechte, das Höhere ist das Gute. Es ist die Vorstellung der klassischen Religionen, dass wir ein echtes, wahres, absolutes Selbst haben, das nicht von irdischen Dingen verunreinigt ist, frei von Sünden (der Westen, Christentum, Islam, Judentum) oder frei von Illusionen (der Osten, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Dies steht dem niederen, falschen, relativen Selbst, dem Ego, gegenüber. Dieses niedere Selbst ist die Ursache von Leiden, Sünden, Illusionen, und dieses gilt es auszumerzen oder zu transformieren. Das ist der Weg vom Real zum Ideal, vom Relativen zum Absoluten, vom Schlechten zum Guten, vom Falschen zum Richtigen, vom Sündigen zum Heiligen usw.

zu b)
Immer wieder kommt es vor, dass manchen Menschen klar wird, dass mit dieser Denkweise etwas nicht stimmt. Wir können das Ideal niemals erreichen, wir können niemals diese Vollkommenheit, diese Heiligkeit, diese permanente, absolute, immerwährende, perfekte Erleuchtung oder Erlösung erreichen. Wir sind immer wieder in dem Jammertal gefangen, in der irdischen Relativität, in den Fehlern, Schwächen, Unvollkommenheiten.
Hier setzt die Veränderung der Wahrnehmung der Realität an. Wenn ich schon nicht meine Realität nachhaltig ändern kann – die Tatsache, dass ich unvollkommen bin -, dann ändere ich eben die Definition davon, was vollkommen ist. Wir erkennen, dass viele negative Bewertungen von Dingen oder Handlungen geschlossene Symbole sind, d.h. viele Negationen sind konventionelle Tabus, die uns mehr Leiden verursachen, als sie uns vor Leiden schützen. Zum Beispiel wurde jahrhundertelang die Sexualität tabuisiert, um die Bevölkerung vor unerwünschter Nachkommenschaft und Geschlechtskrankheiten zu schützen. Zugleich führte diese Tabuisierung zu zahlreichen neurotischen und psychotischen Problemen. Jetzt wird die Sexualität zunehmend enttabuisiert, d.h. in eine positiven Wertung gesetzt, in der Hoffnung, dadurch eine Abnahme des Leids zu erreichen.
Diese alle Gebiete betreffende Änderung der Wahrnehmung der Realität führt jedoch zu einer inflationären Verrohung und Demoralisierung der Gesellschaft. „Anything goes“, „alles kann, nichts muss“ sind Slogans dieser Variante des Paradigmas. Es wird einfach gesagt, jeder kann machen, was er will, das ist okay so. Es gibt keinerlei moralische Maßstäbe mehr, jeder ist frei, sich auszuleben, egal wie – außer er verletzt andere auf physische Weise. Ich bin so okay, wie ich bin. In diesen Gedankengängen liegt ein Teil Wahrheit und ein Teil Leugnung.
Die Wahrheit ist, ich bin der, der ich bin. Die Leugnung ist, dass das so vollkommen ist.

zu c)
Ich bin der, der ich bin, mit all meinen Fehlern, Schwächen und Unvollkommenheiten. Und das ist gut so. Ich bin nicht vollkommen.
Die Selbstgeißelung und Selbstverachtung hört in dem Moment auf, wo ich das Dogma aufgebe, dass das Vollkommene das Gute und das Unvollkommene das Schlechte ist. Wenn ich verstehe, dass es menschlich ist, unvollkommen zu sein, dass es meine Natur ist, unvollkommen zu sein, und dass das nicht schlecht, sondern geradezu gut so ist, dann kann ich meine Unvollkommenheit annehmen. Ich muss die Wahrnehmung der Realität nicht mehr manipulieren und komme so raus aus der Leugnung.
Ich werde authentisch in dem Sinne, dass ich, wenn ich gebrochen oder unvollkommen bin, auch in meiner Gebrochenheit und Unvollkommenheit authentisch bin. Ich bin der, der ich bin. Egal, ob das in irgendeinem von Menschen gemachten Glaubenssystem gut oder schlecht ist.
Aus dieser Annahme meiner Unvollkommenheit gehen Ehrlichkeit, Demut, Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur Veränderung hervor. Ich bin mir meiner Machtlosigkeit und meiner Unvollkommenheit bewusst und dadurch offen für eine Veränderung, die nicht aus meiner Macht und meinem Eigenwillen hervorgebracht wird, sondern von außen kommt. Und hier wird der Raum für eine Höhere Macht, für Gott, geöffnet.
Gott ist der einzige Vollkommene. Hier hat die Vollkommenheit ihren Ort. Aber wir sind nicht Gott. Das ist einfach so. Es gibt Gott. Aber ich bin es nicht. Das ist axiomatisch. Aus dieser Unterscheidung emaniert die Wahrnehmung der Realität so wie sie ist (und nicht unsere manipulierte Wahrnehmung der Realität), sowie die Möglichkeit der realen Veränderung. Reale Veränderung ist immer heterogen, d.h. sie erwächst nicht aus dem Gleichen, was das Leiden oder die Krankheit erwachsen lässt. Sie muss von woanders kommen, etwas neu schaffen, eben verändern.
Es kann sein, dass „Gott“ eine Setzung ist, die für unser Innerstes steht, das uns selbst transzendental ist. Es kann sein, dass wir in Wahrheit Gott – oder in Gott – sind. Aber in unserem jetzigen Zustand des von der Vollkommenheit entfernten Seins sind wir eben nicht Gott. Und es hilft nicht, den Kurzschluss zu machen, die Unvollkommenheit einfach zur Vollkommenheit zu erklären (Variante b).
Es hilft auch nicht, den unvollkommenen Zustand abzulehnen, zu negieren, also als schlecht zu bewerten (Variante a), womit wir uns in die Gut-Schlecht-Dualität verstricken und eine fremdgesteuerte, unbewusste Form der Wertung anwenden.
Die Annahme der Unvollkommenheit als Wie-es-ist (c) ist im Grunde eine wertfreie Sicht. Unvollkommenheit ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach. Aber dadurch, dass sie als Wie-es-ist gesehen wird, existiert sie unbekämpft und unnegiert. Damit erhält sie ein Position, d.h. sie wird positiv. Jedes Sein ist eine Position, d.h. ist in und an sich gut. Das ist der Unterschied zwischen der Negation und der Position. Position ist, Negation ist nicht.
In der ehrlichen Annahme-was-ist gründet sich damit nicht eine wertlose Beliebigkeit oder eine beliebige Wertung, die abstrakt alles erlaubt ohne eine moralische Bewertung möglich zu machen, sondern eine natürliche Ordnung der Dinge, die zum Leben strebt, zum Lebensförderlichen, was immer auch eine Veredelung ist.
Indem wir uns so unvollkommen annehmen, wie wir sind, können wir die werden, die wir sein wollen. Der archimedische Punkt ist die Authentizität in der radikalen Annahme dessen was ist. Dies ist der Kammerton A, die Wahrheit unserer Seele hier und jetzt, mit allen Schmerzen, aller Angst, aller Wut, aller Freude und aller Liebe, die da sind und echt sind. An diesem Punkt ist Veränderung möglich (c). Nicht in der Herausstellung eines Ideals oder einer Vollkommenheit, wo wir nicht sind und die wir werden sollen (a) oder die wir vorgeben zu sein (b).
Diese natürliche Ordnung der Dinge, die sich daraus ergibt, ist die Ordnung des Lebens selbst, letztlich die Ordnung Gottes. Sie hat nichts mit von Menschen erdachten Ordnungen und Kontrollstrategien zu tun.
Sie ist keine Ordnung im ordentlich-moralischen Sinne, denn sie enthält ebenso die Unvollkommenheit, das Chaos, das Leiden, den Schmutz, die Zerstörung und den Tod. Denn dies gehört alles zum Leben dazu. Das ist nicht schlecht. Das ist.

»Wir werden nicht vollkommen werden. Wären wir vollkommen, so wären wir nicht menschlich.« NA-Basic Text, S. 38

»Für Menschen ist Vollkommenheit unerreichbar – sie ist kein realistisches Ziel. Was wir häufig in der Vollkommenheit suchen, ist Freiheit von dem Unbehagen, das wir angesichts unser Fehler spüren. Für diese Freiheit von Unbehagen tauschen wir unsere Neugierde, unsere Flexibilität und unseren Spielraum für Wachstum ein.« NA-Nur für heute, S. 331 (13.11.)

Tattva Viveka

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Authentizität, Selbst

Authentizität


Zwang: Es kann sein, dass ich zwanghaft etwas tun muss und tatsächlich „denke“, ich „will“ das tun. Zum Beispiel habe ich einen zwanghaften Perfektionismus und habe mir in den Kopf gesetzt, eine bestimmte Arbeit perfekt zu machen. Ich habe dann den Zwang, die Sache nochmal und nochmal durchzuarbeiten, um sie zu verbessern. Der Zwang kommt aus einer emotionalen Ebene. Die Handlung zwingt sich auf, sie manifestiert sich zwanghaft. Ich kann das wahrnehmen und bemerken, dass ich wie unter Zwang handeln muss. Das wäre der neurotische Zustand. Der Neurotiker leidet unter seinen Handlungen, wobei er sich dieses Leidens bewusst ist, aber keinen Weg findet, sein Verhalten zu ändern. Der Neurotiker hat die Wahrnehmung: „Ich muss das tun, gegen meinen Willen oder besseres Wissen.“
Wenn ich in einem Zwang handle und dabei denke, ich will das tun, dann ist das ein fortgeschritteneres Stadium der psychischen Fehlstellung. Wenn ich zwar das zwanghafte Verhalten habe, mir diese zwanghafte Verhaltensweise aber nicht erkennbar ist und ich tatsächlich denke, dass ich diese Handlung tun will, nennt man das in der Psychologie Persönlichkeitsstörung. Der kranke Mensch hat sich so mit dem Verhaltensfehler identifiziert, dass er glaubt, das sei sein freier Wille.
Die Gehirnforschung hat darauf hingewiesen, dass Handlungspotentiale im Gehirn früher ausgelöst werden als die Großhirnrinde, der Sitz des bewussten Willens, die bewusste Entscheidung trifft. Gleichwohl ist der Mensch der Meinung, er habe die Handlung aus freiem Willen ausgeführt, was eine Selbsttäuschung ist. Die Wissenschaft leitet aus diesem Umstand den Schluss ab, dass der Mensch keinen freien Willen hat und stattdessen determiniert ist. Tatsächlich jedoch werden die Handlungen des Menschen aus dem emotional-intuitiven Bereich gesteuert, wie fortgeschrittene Hirnforschungen bereits zeigen.
In diesem Bereich des Fühlens ist der Platz der Authentizität. Es ist das Fühlen, welches diese Entscheidungshoheit hat, nicht das Denken. Da wir im Westen uns jedoch extrem stark mit dem Denken identifizieren und da auch unseren freien Willen verorten, der dann auf Willkür, Freiheit oder im idealsten Falle auf Vernunft beruht, können wir den eigentlichen wahren Zusammenhang nicht sehen und sind demzufolge auch von unserer Authentizität abgeschnitten. Stattdessen bewegen wir uns in einem strategischen Selbst.
Als ich heute Morgen unter der Dusche stand, hatte ich nicht das Bedürfnis, laut zu singen. Ich hatte das die letzten Tage gemacht und dabei gespürt, dass es mir Energie gibt. Aber wenn ich es heute Morgen getan hätte, wäre es nur eine strategische Handlung gewesen, um mehr Energie zu bekommen. Tatsächlich fühlte ich, dass es heute nicht dran ist und so habe ich es gelassen. Dies ist nur ein kleines Beispiel. Authentizität reicht in der Folge weiter bis in eine konsequente Selbsterforschung.
Es entstehen Handlungsimpulse aus unserem inneren Wesenskern, diese manifestieren sich, wenn wir nicht strategisch-mental gesteuert sind. Das Denken schnappt sich diese Impulse und eignet sie sich an, indem es sich mit ihnen identifiziert. Dies geschieht innerhalb von Bruchteilen von Sekunden und es erweckt den Anschein: „Ich habe das gewollt.“ Das Ich-Zentrum ist eine Funktion, die immer darauf hinausläuft, aus dem, was vorhanden ist, eine Identität zu bilden. Es werden gleichsam Phänomene eingesammelt, angeeignet und als Ich deklariert. Es ist eine synthetisierende Kraft. Dieses Ich eignet sich die Handlung an und proklamiert sie als freien Willen.
Tatsächlich gibt es Freiheit und Wille, jedoch nicht als strategische. Sie gehören genuin ganz und gar dem Bereich des authentischen Selbst an.
Um zu diesem authentischen Selbst zu gelangen, ist es notwendig, sehr ehrlich mit sich und mit anderen zu sein. Zum Beispiel: Will ich jetzt beten? Oder will ich Wasser trinken?
Es geht erstmal um das Erkennen, was ist. Viele Leute sagen: „Ich bin authentisch, wenn ich ganz bin. In meiner Ganzheit bin ich authentisch.“ Aber das ist Ideologie. Wenn ich tatsächlich ganz bin, bin ich in dieser Ganzheit authentisch. Aber wenn ich gebrochen bin, bin ich in dieser Gebrochenheit authentisch. Die Energie zum Wachstum erwächst aus dieser Authentizität. Es ist egal, ob das gut oder schlecht in irgendeinem Glaubenssystem ist. Ein Glaubenssystem wäre zum Beispiel: „Ganzheit ist gut. Gebrochenheit ist schlecht.“ Meine Bewegung hin zum Ganzsein kommt durch das Erkennen, dass ich ein zerbrochener Mensch bin.
Hier ist die Authentizität keine strategische Haltung mehr, keine Kopfgeburt oder gewollte, zwanghafte Vorstellung. Hier ist das Ende von Bewertung und Gut-Schlecht-Urteilen. Hier ist das Erkennen, was ist und wer wir sind. In dieser ehrlichen Selbsterforschung und Selbstannahme ist die Energie enthalten, die Wachstum und Entwicklung ermöglicht. Jede Leugnung trennt uns von dieser Energie ab und macht uns tot.
Wir sind in unserem Grunde emotionale Wesen. Das Denken kann diesen Bereich nicht ergründen oder begreifen. Wir dürfen aber vertrauen, dass diese inneren Impulse uns nicht schaden oder in die Irre führen. Es ist nur so schwierig, diesen Impulsen zu folgen, weil es bedeutet, die Kontrolle aufzugeben. Wir können nicht immer zuverlässig wissen, was als nächstes passiert, was wir als nächstes tun bzw. wann wir es tun.
Richtiges Denken ist: Zunächst sind wir nur die Beobachter dieser Impulse, die aus unserer Tiefe aufsteigen und sich in einer Handlung manifestieren. Das Denken folgt diesen Manifestationen und ordnet sie im Verstehen. Das Denken sucht die Muster, Unterschiede, Identitäten und Ähnlichkeiten, um daraus Prognosen für die Zukunft zu erstellen. Logik ist das, was man aus Erfahrung erwartet. Das ist einfaches Denken. Philosophisches Denken im Unterschied dazu denkt sich selbst und erkennt die Muster im Denken. Dadurch wird es möglich, sich mittels Denken selbst vom Denken zu desidentifizieren.
Realer Lebensvollzug hingegen bedeutet, sich garnicht erst mit dem Denken zu identifizieren, sondern zu fühlen und der Energie zu folgen. Authentische Handlungen sind immer energetisch. Sie geben Energie. Sie stärken. Sie sind die Handlungen, die wir wirklich tun wollen. Sie sind die wirklich freien Handlungen, weil sie unserer aktualen und momentanen inneren Wahrheit entsprechen, wie immer die auch aussehen mag. Es gibt kein vorgegebenes Bild, keine Vorschrift, keine Regel. Alles ist vollständig individuell und original. Im Grunde ist es der göttliche Impuls oder der Lebensimpuls.
Authentizität bedeutet demzufolge, sich selbst zu erkennen und der zu sein, der ich bin. „Ich bin, der ich bin“, sagte die Stimme im Dornbusch zu Moses. Dies ist die radikale Selbstidentität. Diese ist jedoch keine monistische ununterschiedene Identität und auch keine geregelte, moralistische, sondern eine vielfältige, dialektische, zusammengesetzte Einheit. Diese Art der Einheit in der Verschiedenheit ist mit unserer weltliche Logik nicht zu denken, denn sie folgt nicht den materiellen Gesetzen von Raum und Zeit. Sie ist eine non-lokale und zeitlose Logik der Qualitäten, in der Einheit und Verschiedenheit gleichzeitig existieren.
Die Impulse manifestieren sich spontan aus unserem emotio-intuitiven Zentrum, aus unserem Herzen. Und das umso besser, je mehr wir die mentalen Panzerungen und Leugnungsstrategien abgebaut haben. Dieser Abbau ist die psycho-spirituelle Heilungs- und Genesungsarbeit, die notwendig ist, um unsere alten emotionalen Wunden zu heilen und den Fluss der emotionalen Energie wieder in Gang zu bringen. Diese Heilung muss emotional geschehen, um das Vertrauen in das Leben und die Liebe zu mir selbst wiederzufinden.
„Wir überprüften unser Leben und fanden heraus, wer wir wirklich sind. Wirklich demütig zu sein, bedeutet, uns zu akzeptieren und ehrlich zu versuchen, wir selbst zu sein. Wir sind weder vollkommen gut noch vollkommen schlecht. Wir sind Leute mit Stärken und Schwächen. Aber vor allen Dingen sind wir Menschen.“ (NA-Basictext, S. 45)
„Indem wir uns so annehmen, wie wir wirklich sind, erlangen wir die Freiheit, diejenigen zu werden, die wir sein möchten.“ (NA-Nur für heute, S. 284)

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Selbst

Ich bin, der ich bin

Wir sind deshalb nicht okay, wie wir sind, weil wir nicht die sind, die wir sind.

In den weltgeschichtlichen Daseinslagen der menschlichen Gemeinschaft wurde bisher die doppelte Reflexion des menschlichen Bewusstseins nicht richtig verstanden. Der Mensch ist ein Ich-Mich, oder ein Ich-Mir. Er kann sich selbst erkennen, sehen, beschreiben. Er kann sich selbst zum Objekt seiner Wahrnehmung, Erkenntnis und Handlung machen. Dies ist eine merkwürdige Sonderform, wenn das Subjekt zum Objekt wird. Wenn also das Objekt meiner Erkenntnis ich selbst bin.
Dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt, das in eins fällt, wurde bisher nicht sauber verstanden. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht nur ein derartiges Subjekt gibt, sondern unzählige. Ich kann also auch das andere Subjekt, mein Gegen-Über, den anderen Unter-Worfenen (subjectum), als Subjekt-Objekt wahrnehmen, bzw. muss es, wenn ich in der Realität sein will.

Indem ich der bin, der ich bin, bin ich so, wie Gott mich geschaffen hat.

Es geht um die Auflösung des Widerspruchs von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, der aus der Multiplizität der Subjekte entspringt. Der Mensch hat die Fähigkeit, nicht sich zu sein, sondern statt dessen irgendeine Rolle zu spielen, die nicht authentisch ist. Ich kann nicht der sein, der ich bin, weil mir irgendwelche Leute suggeriert haben, dass ich so, wie ich bin, nicht okay bin. Ich bin nicht gut genug, ich soll so sein, wie diese Leute sich das vorstellen und es gerne hätten. Irgendwann in der frühen Geschichte der Menschheit fing das an, durch die Entstehung der Religionen und der Absonderung Einzelner aus dem Stammesverbund, um ihre Individualität zu suchen. Es war wohl eine zwangsläufige Entwicklung. Es geht nicht darum, wieder zum Stammesbewusstsein zurückzukehren, jedenfalls nicht undialektisch und folkloristisch. Das Ich entstand, das Subjekt erkannte sich selbst. Aber es merkte, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist, weil es nicht der war, der es ist. Es entstand ja erst, und vorher war der Einzelne primär Teil des Kollektivs, auf Gedeih und Verderb der Sippe einverleibt. D.h. nur in der Sippe konnte der Einzelne gedeihen, und die Sippe konnte auch sein Verderben sein. Das Subjekt setzte sich ab, ans Ufer, heraus aus dem Strom des kollektiven Lebens, um zu meditieren und zu reflektieren (vgl. P. Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern). Der Mensch war nicht mehr mimetischer Bestandteil des Ganzen, er war nicht mehr integral, er machte sich nicht mehr ähnlich, um im großen Fluss mitzufließen, sondern erkannte den Unterschied zwischen sich (Subjekt) und der Außenwelt (Objekt) (vlg. hierzu Walter Benjamin: über das mimetische Vermögen).
Aber hier setzte auch die Verwirrung ein. Er selbst war nun gleichzeitig Subjekt und Objekt. Und andere Subjekte außerhalb seiner selbst waren ebenfalls sowohl Subjekte als auch Objekte. Die allgemeine Tendenz ging deshalb in den letzten 2500 Jahren dahin, alles zu objektivieren, alles als Objekt zu sehen. Das war der Triumphzug der Wissenschaft, die ja per definitionem alles objektiviert. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt vertiefte sich. Die Subjekte wurden zu Objekten gemacht, zu Gegenständen, die ausbeutbar und beherrschbar waren. Man machte sich sogar selbst zum Objekt. Kurz: Das Subjekt war nicht sich selbst.
Von daher war die Anmutung: „wir sind nicht okay, so wie wir sind“ richtig. Aber nicht im einfachen Sinne, das meine Wahrheit nicht okay ist, sondern in dem Sinne, dass ich nicht in meiner Wahrheit war. Wir waren nicht die, die wir wirklich sind. Und das ist es, was den Drang zur Veränderung, zur Veredelung und zum „Aufstieg des Ich“ motivierte.
Das Schwierige an dem ganzen Sachverhalt ist, diese doppelte Reflexivität zu fühlen und zu verstehen: dieses Ich-Mich. Einfache Refexion ist das bewusste Wahrnehmen eines Objekts: „Das ist ein Tisch.“ Doppelte Reflexion ist die Selbstwahrnehmung: „Ich erkenne mich.“ Eines der dramatischsten Ich-Michs ist: „Ich bringe mich um.“ Eines der schönsten Ich-Michs ist „Ich spüre mich.“ Eines der schwierigsten: „Ich liebe mich.“
In diesem Sinn ist der Satz „Ich bin, der ich bin“ zu verstehen. Ein befreiter Mensch ist in der Lage, sich selbst zu sein. Es ist ein berühmter Satz. Er wurde von der Stimme im brennenden Dornbusch gesprochen, auf die Frage von Moses: „Wer bist du?“
Das ist der Auftrag nun, für das neue Zeitalter. Es geht nun für jeden Einzelnen darum, der zu sein, der er ist. Es geht um die ontologische Feststellung der unreduzierbaren Individualität jedes einzelnen Menschen (und jedes einzelnen Lebenwesens bis hin zum Käfer oder zur Flechte). Jeder Einzelne geht als unreduzierbare, nicht abstrahierbare oder generalisierbare Subjektivität, Individualität und Qualität in die Betrachtung ein (vgl. hierzu die wegweisende Arbeit von Gotthard Günther: Das Bewusstsein der Maschinen). Das ist die n-wertige Logik. Das ist qualitative Mathematik, denn „n“ ist in der Mathematik die Menge der natürlichen Zahlen.

Die schmerzhafteste Dynamik in dieser doppelten Subjektivität ist, sich von sich selbst abzuspalten. Etwas, mit dem wir anscheinend in unsere Subjektivität hineingeboren wurden. „Wir haben uns nicht. Deshalb werden wir erst.“ (Ernst Bloch) Wir sind immer schon von uns selbst entfremdet, den das Subjekt entstand aus einer Wegbewegung vom mimetischen Ganzen, aus einer schmerzhaften Erfahrung des Nicht-dazu-Gehörens. Das war der Preis, um uns selbst zu finden. Es war überhaupt kein Finden, denn das Ich existierte bis dahin nicht. Es war eine Geburt, also das Entstehen von etwas ganz Neuem. Und es ist heute noch für jeden Einzelnen eine Geburt. Die zweite Geburt nach der ersten, der physischen.

„Ich bin, der ich bin“ war über 2500 Jahre nur Gott möglich gewesen. Wir Menschen waren nicht die, die wir wirklich sind. Wir wussten nicht, wer wir waren. Der schmerzliche Widerspruch zwischen Subjekt und Gegen-Subjekt, zwischen Ich und Du – in der Grammatik vielsagend 1. und 2. Person Singular genannt – spannte sich auch noch auf ein anderes Subjekt aus: Gott. Auch hier herrscht Verunsicherung: Ist Gott ein Subjekt oder nicht? Und wenn ja: Ist er ein von mir verschiedenes Subjekt?

Das Erlösende und die Heilung vom Schmerz ist die Annahme und das Verständnis Gottes als unser Schöpfer. Der nagende Gedanke, getrennt zu sein und nicht okay zu sein, ist im Grunde dieses Nicht-ich-Sein. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Gegen-Subjekt, zwischen Unterworfenem (subjectum) und Gegen-Über, ist nur auflösbar in der dritten Instanz, in dem gefühlten Verstehen, dass wir so, wie wir sind, von Gott gewollt sind.

„Die wirkliche Heilung beginnt damit, dass wir verstehen: Wenn uns unsere Höhere Macht so geschaffen hat, muss es okay sein, der Mensch zu sein, der wir sind.“ (NA-Meditation vom 28. Mai)

Standard
Philosophie, Sloterdijk, Spirituelle Kultur

Im Garten des Menschlichen (1)

Zu Peter Sloterdijk: „Du musst dein Leben ändern“

Dieser Artikel wird in Tattva Viveka 42 erscheinen.
Erscheinungstermin der Printausgabe: 15. Februar 2010
Jetzt hier erstmal nur die Einleitung und einige markante Sätze.

Einleitung

Was ist der Sinn von Kultur? Was ist der Sinn von Religion? Peter Sloterdijk unternimmt mit seinem aktuellen Buch eine Totalstudie der menschlichen Kultur incl. der spirituellen Kulturen Asiens. Nach seiner philosophischen Analyse sind die Religionen „anthropotechnische Übungsprogramme“, die in Form von Askesen zu einer Verbesserung des Menschen beitragen sollen. Daraus entstand die „ethische Differenz“. In der Aufklärung beobachten wir den Zerfall der Religionen und eine Entspiritualisierung der Askesen. Sloterdijks aufklärerische Antwort endet in einem Widerspruch. Könnte es sein, dass sie um eine Dimension zu kurz greift?

Einige Zitate aus dem Text

„Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am Unmöglichen orientiert.“ (S. 700)

Sloterdijk beharrt darauf, „dass es kein Menschenrecht auf Nicht-Überforderung gibt“ (ebd.)

Wer eine Analyse des Realen anstrebt, ohne Gott dazu zu bemühen, endet meines Erachtens in einer Aporie, das heißt in einem unlösbaren Widerspruch.

Loslassen, Gott überlassen – lautet ein alter Weisheitsspruch.

„Ich verstehe hierunter die mentalen und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.“ (Sloterdijk zu Anthropotechniken, S. 25).

Kultur als Grundparadoxon umfasst: wir sollen mehr werden, als wir sind, und das, was wir werden sollen, ist unmöglich.

„Indem die Hochkulturen Ausnahmeleistungen zu Konventionen erheben, erzeugen sie eine pathogene Spannung, eine Art von chronischer Höhenkrankheit.“ (P. Sloterdijk)

Nicht die Religionen waren oder sind das Problem, sondern das Basisparadoxon der Erklärung des Unmöglichen zur Normalität.

Kultur ist somit in ihrem Ursprung eine erste allgemeine Verunsicherung: Du musst dein Leben ändern! – Denn so, wie es ist, ist es nicht gut.

Die Sezession des Selbst selbst scheint den Widerspruch zu gebären. Ohne Selbst gäbe es keine Ethik, und ohne Ethik gäbe es kein Selbst.

Wer nicht demütig ist, wird gedemütigt.

Die Änderung kommt von Gott, oder nennen wir es die innenwohnende Gesundungstendenz des Lebens, die Syntropie.

Der Eigenwille ist die zentrale Achse der spirituellen Absonderung vom Ganzen.

Die spirituelle Tatsache indes ist das Leben selbst. Das Leben insbesondere, das sich selbst erkennt. Dieses ist sowohl biologisch als auch geistig. Es gibt dazwischen keinen Widerspruch.

Spiritualität ist die unmittelbare Erfahrung des Einzelnen mit Gott, ohne Vermittlung.

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Spirituelle Kultur

Die widerstandslose Bewegung im Wind Gottes

Vogel im Ast
Eben stand ich an meinem Küchenfenster und schaute hinaus, als mein Blick zufällig auf eine Taube fiel, die gegenüber im Baum auf einem Zweig saß. Es war starker Wind und der dünne Zweig wiegte sich im Wind hin und her, teils kam ein Windstoß, teils nahm der Wind unterschiedliche Richtungen an. Die Taube saß auf dem Zweig – stoisch, gelassen, völlig entspannt. Sie und der Zweig schienen eins zu sein, sie bewegte sich in vollkommener Einheit mit dem Zweig. Da war kein Ausbalancieren, kein Gegensteuern oder Wackeln zu sehen. Sie putzte sich gelegentlich sogar noch. Ich schaute ungefähr 15 Minuten zu. Nur bei ganz heftigen Windstößen machte sie eine kleine Ausgleichsbewegung, aber auch das war im Verhältnis gesehen fast nichts. Ich stellte mir vor, ich säße da an ihrer Stelle. Ich müsste die ganze Zeit ausbalancieren und gegensteuern. Ich müsste ständig aufpassen und einen großen Kraftaufwand betreiben, um mich überhaupt auf dem Ast zu halten. Ich würde über kurz oder lang herunterfallen.
Da verstand ist, was es heißt, im Einklang zu sein. Diese Taube hatte kein Ego und keinen Eigenwillen. Was ich da sah, war Annahme, Ergebung, Hingabe. Wie unmittelbar sie den Bewegungen folgen konnte, wie widerstandslos sie auf dem Ast saß! Dies war noch nicht mal ein Folgen der Bewegung, was ja noch eine Trennung zwischen Vogel und Ast voraussetzen würde. Nein, das war eine Einheit, ein vollkommener Einklang. Egal wie sich der Ast im Wind bewegte, die Taube bewegte sich in die gleiche Richtung, als sei sie selbst der Ast.
Wir Menschen mit unserem Ego hingegen wollen immer unserem eigenen Willen folgen. Der Ast will nach rechts? Nein, ich will nach links! Wir müssen soviel Kraft aufwenden, weil wir uns nicht hingeben wollen, weil wir nicht dem Willen Gottes folgen wollen. Das Leben ist ein dynamischer Prozess, das Leben ist in Bewegung. Es wird von einer höheren Intelligenz gelenkt. Wenn wir doch diesen Willen Gottes annehmen könnten, dann könnten wir mit den Bewegungen im Leben im Einklang sein und wären entspannt, gelassen, in Frieden.
Aber wir vertrauen diesem Lebensprozess nicht. Es gibt jedoch ein Versprechen: wenn wir uns ganz auf diese Bewegung Gottes einlassen, dann sind wir in Frieden und es wird optimal für uns gesorgt.

Die bisherigen Daseinslagen des Menschen haben ihn enttäuscht, was diese Hingabe an Gott betrifft. Der aufgeklärte Mensch möchte selber denken, wollen und handeln. Wir wollen uns nicht vorschreiben lassen, wann wir rechts und wann wir links gehen. Dies rührt daher, dass einerseits unser unschuldiges Vertrauen missbraucht wurde, andererseits wir selbst dumm gewesen sind. Der Fehler lag darin, dass wir Menschen als Götter oder als »authorisierte« Stellvertreter akzeptiert haben. Diese Vermischung von menschlicher und göttlicher Sphäre ist ungesund, sie führt zu dem Vertrauensbruch und der Enttäuschung über die göttliche Fügung. Die menschlichen Vermittler, die sich zwischen uns und Gott gestellt haben, haben die Sache verdorben – die Gottkönige, die Päpste, die Gurus. Tatsächlich hat jeder Mensch eine direkte, unmittelbare Verbindung zu dieser göttlichen Bewegung des Lebens. Diese Verbindung gilt es wieder herzustellen, durch Hingabe, Gebet und Meditation.

Solange wir im Ego und im Eigenwillen verharren, sind wir steif und jede Bewegung erzeugt Widerstand. Sobald wir kapitulieren und uns hingeben, werden wir getragen und können ganz gemütlich und angenehm im Fluss des Lebens, im göttlichen Wind unser Sein genießen. Die widerstandslose Bewegung trägt uns in die Ewigkeit, den Frieden und das Glück, das wir suchen. Das Beste, was wir uns für uns vorstellen können, ist nur ein flüchtiger Schimmer des Willens Gottes für uns.

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Philosophie

Gottes Gericht

Wahrscheinlich haben wir noch nicht einmal das Recht, alles zu wissen und immer Recht zu haben.

Wir Menschen neigen dazu, auf alles eine Antwort zu haben. Das bedeutet, dass wir eher lügen als unsere Unwissenheit zugeben. Es ist uns wichtiger, überhaupt eine Antwort zu haben, auch wenn sie falsch ist, als es offen zu lassen und zu sagen: „Ich weiß es nicht.“
Dies ist der Wunsch, alles zu wissen und auf alles eine Antwort zu haben. Wir wollen immer Recht haben. Das ist unser Anspruch auf Kontrolle, auf Herrschaft. Wir wollen verstehen, aber indem wir unser Nicht-Verstehen nicht zugeben, wird das Verstehen zu einem Herrschaftsinstrument, zu einer Kontrollillusion.
Es ist menschlich, eine Antwort auf die offenen Fragen zu suchen. Aber wir haben kein Recht darauf, alles zu wissen.
Am gefährlichsten sind die Menschen, die auf alles eine Antwort haben. Das sind die Täuscher, die Dogmatiker. Für sie wird der Nicht-Wissende, der Fragende schnell zum Feind. Sie können keine Unvollkommenheit tolerieren. Schwäche ist ihnen ein Greul.

Wir wollen immer Recht haben. Aber das Recht gehört uns nicht. Das Recht gehört Gott. Deshalb heißt es „der Tag des jüngsten Gerichts“. Was immer wir Menschen uns an Erklärungen und Rationalisierungen zusammendichten – sie werden von der Wirklichkeit Lügen gestraft werden. Das Gericht wird kommen, aber wir werden dieses Urteil nicht sprechen. Das wird von Gott gesprochen. (Gott = Höhere Macht, Großer Geist, das Göttliche, Göttin, kosmische Weisheit, das Eine etc.)

Gott ist der Richter, der Richtende, der der die Richtung gibt. Es gibt ein Gericht, ja. Aber das halten nicht wir Menschen ab. Das ist die Anmaßung. Wir Menschen wollen Gott sein, und wollen richten. Daraus entsteht das ganze Leiden der Welt. Wir haben kein Vertrauen in die Weisheit Gottes, in seine Liebe und Fürsorge. Einige Menschen haben ihn zu einem strafenden Gott stilisiert, um ihre eigenen Machtinteressen zu erfüllen. Sie regierten mit Angst und Schuld, mit Schrecken und Scham „im Namen Gottes“.

Aber Gott ist liebend und fürsorglich. Du bist ein Kind Gottes. Er hat dich so gewollt, wie du bist.

Die Handlungsketten, die wir Menschen auslösen, unterliegen dem Gericht Gottes. Selbst mit all unserer Kraft können wir gegen dieses Gericht nicht ankommen. Wir können es hinauszögern. Aber wir wissen ja schon: „Gottes Mühlen mahlen langsam.“ Gott hat zwei Geschwindigkeiten: langsam und ganz langsam. Auch über die Geschwindigkeit haben wir keine Kontrolle. Das Ergebnis wird kommen, und es wird von Gott gegeben. Deshalb diese Rede von der Gottesfurcht. Es bedeutet nicht: habe Angst. Es bedeutet, achtsam zu sein und Gottes Weisheit zu ehren. Ich glaube, selbst Gott hat keinen Einfluss auf das Karma, also die kosmischen Gesetze, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ablaufen. 1+1=2, das ist halt so.

Indem wir uns der Führung Gottes anvertrauen, seinem Willen, haben wir die kosmische Weisheit und die kosmischen Gesetze auf unserer Seite. Das ist das Beste, was uns geschehen kann.

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