Selbst

Ich bin, der ich bin

© Marianne Weiss

Wir sind deshalb nicht okay, wie wir sind, weil wir nicht die sind, die wir sind.

In den weltgeschichtlichen Daseinslagen der menschlichen Gemeinschaft wurde bisher die doppelte Reflexion des menschlichen Bewusstseins nicht richtig verstanden. Der Mensch ist ein Ich-Mich, oder ein Ich-Mir. Er kann sich selbst erkennen, sehen, beschreiben. Er kann sich selbst zum Objekt seiner Wahrnehmung, Erkenntnis und Handlung machen. Dies ist eine merkwürdige Sonderform, wenn das Subjekt zum Objekt wird. Wenn also das Objekt meiner Erkenntnis ich selbst bin.
Dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt, das in eins fällt, wurde bisher nicht sauber verstanden. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht nur ein derartiges Subjekt gibt, sondern unzählige. Ich kann also auch das andere Subjekt, mein Gegen-Über, den anderen Unter-Worfenen (subjectum), als Subjekt-Objekt wahrnehmen, bzw. muss es, wenn ich in der Realität sein will.

Indem ich der bin, der ich bin, bin ich so, wie Gott mich geschaffen hat.

Es geht um die Auflösung des Widerspruchs von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, der aus der Multiplizität der Subjekte entspringt. Der Mensch hat die Fähigkeit, nicht sich zu sein, sondern statt dessen irgendeine Rolle zu spielen, die nicht authentisch ist. Ich kann nicht der sein, der ich bin, weil mir irgendwelche Leute suggeriert haben, dass ich so, wie ich bin, nicht okay bin. Ich bin nicht gut genug, ich soll so sein, wie diese Leute sich das vorstellen und es gerne hätten. Irgendwann in der frühen Geschichte der Menschheit fing das an, durch die Entstehung der Religionen und der Absonderung Einzelner aus dem Stammesverbund, um ihre Individualität zu suchen. Es war wohl eine zwangsläufige Entwicklung. Es geht nicht darum, wieder zum Stammesbewusstsein zurückzukehren, jedenfalls nicht undialektisch und folkloristisch. Das Ich entstand, das Subjekt erkannte sich selbst. Aber es merkte, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist, weil es nicht der war, der es ist. Es entstand ja erst, und vorher war der Einzelne primär Teil des Kollektivs, auf Gedeih und Verderb der Sippe einverleibt. D.h. nur in der Sippe konnte der Einzelne gedeihen, und die Sippe konnte auch sein Verderben sein. Das Subjekt setzte sich ab, ans Ufer, heraus aus dem Strom des kollektiven Lebens, um zu meditieren und zu reflektieren (vgl. P. Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern). Der Mensch war nicht mehr mimetischer Bestandteil des Ganzen, er war nicht mehr integral, er machte sich nicht mehr ähnlich, um im großen Fluss mitzufließen, sondern erkannte den Unterschied zwischen sich (Subjekt) und der Außenwelt (Objekt) (vlg. hierzu Walter Benjamin: über das mimetische Vermögen).
Aber hier setzte auch die Verwirrung ein. Er selbst war nun gleichzeitig Subjekt und Objekt. Und andere Subjekte außerhalb seiner selbst waren ebenfalls sowohl Subjekte als auch Objekte. Die allgemeine Tendenz ging deshalb in den letzten 2500 Jahren dahin, alles zu objektivieren, alles als Objekt zu sehen. Das war der Triumphzug der Wissenschaft, die ja per definitionem alles objektiviert. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt vertiefte sich. Die Subjekte wurden zu Objekten gemacht, zu Gegenständen, die ausbeutbar und beherrschbar waren. Man machte sich sogar selbst zum Objekt. Kurz: Das Subjekt war nicht sich selbst.
Von daher war die Anmutung: „wir sind nicht okay, so wie wir sind“ richtig. Aber nicht im einfachen Sinne, das meine Wahrheit nicht okay ist, sondern in dem Sinne, dass ich nicht in meiner Wahrheit war. Wir waren nicht die, die wir wirklich sind. Und das ist es, was den Drang zur Veränderung, zur Veredelung und zum „Aufstieg des Ich“ motivierte.
Das Schwierige an dem ganzen Sachverhalt ist, diese doppelte Reflexivität zu fühlen und zu verstehen: dieses Ich-Mich. Einfache Refexion ist das bewusste Wahrnehmen eines Objekts: „Das ist ein Tisch.“ Doppelte Reflexion ist die Selbstwahrnehmung: „Ich erkenne mich.“ Eines der dramatischsten Ich-Michs ist: „Ich bringe mich um.“ Eines der schönsten Ich-Michs ist „Ich spüre mich.“ Eines der schwierigsten: „Ich liebe mich.“
In diesem Sinn ist der Satz „Ich bin, der ich bin“ zu verstehen. Ein befreiter Mensch ist in der Lage, sich selbst zu sein. Es ist ein berühmter Satz. Er wurde von der Stimme im brennenden Dornbusch gesprochen, auf die Frage von Moses: „Wer bist du?“
Das ist der Auftrag nun, für das neue Zeitalter. Es geht nun für jeden Einzelnen darum, der zu sein, der er ist. Es geht um die ontologische Feststellung der unreduzierbaren Individualität jedes einzelnen Menschen (und jedes einzelnen Lebenwesens bis hin zum Käfer oder zur Flechte). Jeder Einzelne geht als unreduzierbare, nicht abstrahierbare oder generalisierbare Subjektivität, Individualität und Qualität in die Betrachtung ein (vgl. hierzu die wegweisende Arbeit von Gotthard Günther: Das Bewusstsein der Maschinen). Das ist die n-wertige Logik. Das ist qualitative Mathematik, denn „n“ ist in der Mathematik die Menge der natürlichen Zahlen.

Die schmerzhafteste Dynamik in dieser doppelten Subjektivität ist, sich von sich selbst abzuspalten. Etwas, mit dem wir anscheinend in unsere Subjektivität hineingeboren wurden. „Wir haben uns nicht. Deshalb werden wir erst.“ (Ernst Bloch) Wir sind immer schon von uns selbst entfremdet, den das Subjekt entstand aus einer Wegbewegung vom mimetischen Ganzen, aus einer schmerzhaften Erfahrung des Nicht-dazu-Gehörens. Das war der Preis, um uns selbst zu finden. Es war überhaupt kein Finden, denn das Ich existierte bis dahin nicht. Es war eine Geburt, also das Entstehen von etwas ganz Neuem. Und es ist heute noch für jeden Einzelnen eine Geburt. Die zweite Geburt nach der ersten, der physischen.

„Ich bin, der ich bin“ war über 2500 Jahre nur Gott möglich gewesen. Wir Menschen waren nicht die, die wir wirklich sind. Wir wussten nicht, wer wir waren. Der schmerzliche Widerspruch zwischen Subjekt und Gegen-Subjekt, zwischen Ich und Du – in der Grammatik vielsagend 1. und 2. Person Singular genannt – spannte sich auch noch auf ein anderes Subjekt aus: Gott. Auch hier herrscht Verunsicherung: Ist Gott ein Subjekt oder nicht? Und wenn ja: Ist er ein von mir verschiedenes Subjekt?

Das Erlösende und die Heilung vom Schmerz ist die Annahme und das Verständnis Gottes als unser Schöpfer. Der nagende Gedanke, getrennt zu sein und nicht okay zu sein, ist im Grunde dieses Nicht-ich-Sein. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Gegen-Subjekt, zwischen Unterworfenem (subjectum) und Gegen-Über, ist nur auflösbar in der dritten Instanz, in dem gefühlten Verstehen, dass wir so, wie wir sind, von Gott gewollt sind.

„Die wirkliche Heilung beginnt damit, dass wir verstehen: Wenn uns unsere Höhere Macht so geschaffen hat, muss es okay sein, der Mensch zu sein, der wir sind.“ (NA-Meditation vom 28. Mai)

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Spirituelle Kultur

Die widerstandslose Bewegung im Wind Gottes

Vogel im Ast
Eben stand ich an meinem Küchenfenster und schaute hinaus, als mein Blick zufällig auf eine Taube fiel, die gegenüber im Baum auf einem Zweig saß. Es war starker Wind und der dünne Zweig wiegte sich im Wind hin und her, teils kam ein Windstoß, teils nahm der Wind unterschiedliche Richtungen an. Die Taube saß auf dem Zweig – stoisch, gelassen, völlig entspannt. Sie und der Zweig schienen eins zu sein, sie bewegte sich in vollkommener Einheit mit dem Zweig. Da war kein Ausbalancieren, kein Gegensteuern oder Wackeln zu sehen. Sie putzte sich gelegentlich sogar noch. Ich schaute ungefähr 15 Minuten zu. Nur bei ganz heftigen Windstößen machte sie eine kleine Ausgleichsbewegung, aber auch das war im Verhältnis gesehen fast nichts. Ich stellte mir vor, ich säße da an ihrer Stelle. Ich müsste die ganze Zeit ausbalancieren und gegensteuern. Ich müsste ständig aufpassen und einen großen Kraftaufwand betreiben, um mich überhaupt auf dem Ast zu halten. Ich würde über kurz oder lang herunterfallen.
Da verstand ist, was es heißt, im Einklang zu sein. Diese Taube hatte kein Ego und keinen Eigenwillen. Was ich da sah, war Annahme, Ergebung, Hingabe. Wie unmittelbar sie den Bewegungen folgen konnte, wie widerstandslos sie auf dem Ast saß! Dies war noch nicht mal ein Folgen der Bewegung, was ja noch eine Trennung zwischen Vogel und Ast voraussetzen würde. Nein, das war eine Einheit, ein vollkommener Einklang. Egal wie sich der Ast im Wind bewegte, die Taube bewegte sich in die gleiche Richtung, als sei sie selbst der Ast.
Wir Menschen mit unserem Ego hingegen wollen immer unserem eigenen Willen folgen. Der Ast will nach rechts? Nein, ich will nach links! Wir müssen soviel Kraft aufwenden, weil wir uns nicht hingeben wollen, weil wir nicht dem Willen Gottes folgen wollen. Das Leben ist ein dynamischer Prozess, das Leben ist in Bewegung. Es wird von einer höheren Intelligenz gelenkt. Wenn wir doch diesen Willen Gottes annehmen könnten, dann könnten wir mit den Bewegungen im Leben im Einklang sein und wären entspannt, gelassen, in Frieden.
Aber wir vertrauen diesem Lebensprozess nicht. Es gibt jedoch ein Versprechen: wenn wir uns ganz auf diese Bewegung Gottes einlassen, dann sind wir in Frieden und es wird optimal für uns gesorgt.

Die bisherigen Daseinslagen des Menschen haben ihn enttäuscht, was diese Hingabe an Gott betrifft. Der aufgeklärte Mensch möchte selber denken, wollen und handeln. Wir wollen uns nicht vorschreiben lassen, wann wir rechts und wann wir links gehen. Dies rührt daher, dass einerseits unser unschuldiges Vertrauen missbraucht wurde, andererseits wir selbst dumm gewesen sind. Der Fehler lag darin, dass wir Menschen als Götter oder als »authorisierte« Stellvertreter akzeptiert haben. Diese Vermischung von menschlicher und göttlicher Sphäre ist ungesund, sie führt zu dem Vertrauensbruch und der Enttäuschung über die göttliche Fügung. Die menschlichen Vermittler, die sich zwischen uns und Gott gestellt haben, haben die Sache verdorben – die Gottkönige, die Päpste, die Gurus. Tatsächlich hat jeder Mensch eine direkte, unmittelbare Verbindung zu dieser göttlichen Bewegung des Lebens. Diese Verbindung gilt es wieder herzustellen, durch Hingabe, Gebet und Meditation.

Solange wir im Ego und im Eigenwillen verharren, sind wir steif und jede Bewegung erzeugt Widerstand. Sobald wir kapitulieren und uns hingeben, werden wir getragen und können ganz gemütlich und angenehm im Fluss des Lebens, im göttlichen Wind unser Sein genießen. Die widerstandslose Bewegung trägt uns in die Ewigkeit, den Frieden und das Glück, das wir suchen. Das Beste, was wir uns für uns vorstellen können, ist nur ein flüchtiger Schimmer des Willens Gottes für uns.

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