Soziale Netzwerke

Twitter macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer

Twitter

Zum Phänomen Twitter

Seit 22. Oktober 2009 bin ich bei Twitter.
Ich finde dieses Werkzeug im Grunde eine geniale Sache. Es wird jedoch oft wie ein Kinderspielzeug benutzt, und das meiste, was damit gemacht wird, ist in meinen Augen Quatsch. Es ist ein geniales Medium, aber die Inhalte und der Umgang damit sind oft nicht gerade sinnvoll.
Eigentlich sehe ich in Twitter die Möglichkeit, auf täglicher Basis ohne großen Aufwand meine Reise durch das Meer der Information zu dokumentieren. Ich kann Nachrichten tweeten (engl.: zwitschern), interessante Links posten, mitteilen, was ich gerade für ein Buch lese, philosophische Zitate reinstellen, spirituelle Verwirklichungen teilen, in Echtzeit Statusmeldungen per Handy hochladen usw. Es ist eine Möglichkeit, meine Entdeckungen zu speichern und gleichzeitig anderen die Möglichkeit zu geben, daran teilzunehmen.
Umgekehrt kann ich anderen Menschen folgen, um an ihren Entdeckungen teilzuhaben. So könnte eine schöne, wenn auch lockere Art der Verbindung mit Menschen gepflegt werden. Diese Art der Verbindung sollte sicher nicht die einzige sein, die ich praktiziere. Diese sozialen Netzwerke im Internet bergen die Gefahr, dass der Abstand zwischen den Menschen größer wird, weil man sich von der Begegnung im realen Leben zurückzieht. Aber das wäre nur eine dysfunktionale Form der Anwendung, die die Sache an sich nicht in Frage stellen kann. Als eine der Spielarten in meiner kompetenten Beziehungspflege einerseits und als reiner Informationskanal andererseits kann Twitter durchaus ein wunderbares Werkzeug sein.
Nun gibt es aber Menschen in Twitter, die 5500 Leuten folgen (following) und 5000 Folger (followers) haben. Wer, bitte schön, kann 5500 Leuten folgen, d.h. ihre Nachrichten lesen? Das ist unmöglich. Eine Gepflogenheit scheint es zu sein, nach dem Motto vorgehen: „Wenn du mir folgst, folge ich dir.“ Es geht den Leuten nur um Quantität, um die möglichst große Zahl an Folgern. Das scheint mir doch das zentrale Motiv der Meisten zu sein. Je mehr Folger ich habe, umso ein größerer Fisch bin ich. Dass dies mit dem Mittel der gegenseitigen Hinzufügung zu meiner following-Liste geschieht, ist meines Erachtens ein Raubbau an dem Werkzeug Twitter und eine Bankrotterklärung des Inhalts. Man folgt zwar 5500 Leuten, aber man liest ihre Tweets nicht.
Es lässt sich beobachten, dass die Zahl der Gefolgten (following) immer die Zahl der Folger (followers) übersteigt. Das ist symptomatisch. D.h. sie folgen mehr Leuten, als ihnen Leute folgen. Bei mir erlebe ich das so: Oft folgen mir Leute. Ich gehe dann auf ihre Seite und schaue, was sie schreiben. Wenn mich das nicht interessiert, folge ich ihnen auch nicht. Nach ein paar Tagen entfolgen sie mich wieder. Ich deute das so, dass sie mich wieder löschen, weil ich ihnen nicht im Gegenzug auch folge. Auf diese Weise erreichen diese Leute riesige Zahlen von Folgern und Gefolgten. Die Zahl der Gefolgten ist aber zwangsläufig immer höher, weil sie natürlich einigen wichtigen Tweetern folgen, die ihnen nicht im Gegenzug auch folgen und die sie aber trotzdem nicht löschen, und weil sie natürlich in der Flut der Gefolgten auch immer mal den einen oder anderen, der sich nicht bei ihnen anschließt oder seinerseits nach einiger Zeit wieder entfolgt, beim Entfolgen übersehen. Eine Liste von 5500 Gefolgten kann man unmöglich pflegen. Das ist technisch und vor allem zeitlich nur mit sehr hohem Aufwand zu bewältigen. Man lässt sie deshalb einfach als Karteileichen liegen. Ich vermute mal, dass diese Leute das auch nicht so genau nehmen.
Eine echte und überzeugende Sache machen hingegen die Leute, die z.B. 5000 Folger haben und selbst nur 10 oder 50 Leuten folgen. Das zeigt, dass diese Tweeter was zu bieten haben. Auch ohne dass sie ein Gegengeschäft machen, folgen ihnen 5000 Leute. Zum Beispiel hat der Dalai Lama 376.676 Folger, und folgt selbst 0 Leuten. Oder Michael Moore, der us-amerikanische Filmemacher, hat 675.226 Folger und folgt selbst nur 50 Leuten. Derartige Beispiele gibt es viele. Solche Zahlenverhältnisse sind Qualitätsmerkmale. Die Zahl der Folger kann unbegrenzt wachsen. Die Zahl der Gefolgten, also derer, denen ich folge, kann meines Erachtens maximal um die 100 sein, wenn jeder von denen alle zwei Tage einen Tweet reinstellt.
Davon abgesehen kann Twitter auch für nicht berühmte Menschen ein schönes Werkzeug sein, wenn sich echte Menschen, die sich kennen und sich etwas zu sagen haben, vernetzen und gegenseitig folgen. Dann kann Twitter eine Bereicherung sein.
Leider stelle ich fest, dass die Menschen aus meiner Szene, denen ich gerne folgen würde, überhaupt nicht in Twitter sind, weil sie sich von dem Quatsch, der dort massenhaft verbreitet wird, nicht angezogen fühlen.
Ich plädiere deshalb dafür, dass wir uns innerhalb von Twitter unsere eigenen, qualitativen Netzwerke aufbauen. Auch wenn viele Twitter nur wie ein Kinderspielzeug dafür benutzen, um Masse zu machen und Quatsch zu posten, bedeutet das noch lange nicht, dass das Werkzeug selbst Quatsch ist. Frei nach einem Spruch von Reich-Ranicki übers Fernsehen könnte man deshalb sagen: „Twitter macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer.“
Für mich ist Twitter ein Übungsfeld, das mir hilft, meine Entdeckungen, Erfahrungen und Erkenntnisse bewusst wahrzunehmen und Kompetenz darin zu entwickeln, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Indem ich diese Inhalte notiere und ins Netz stelle, muss ich darüber reflektieren und mir die Dinge bewusst machen. Mir fällt es nicht so schwer, das Unwichtige wegzulassen, als vielmehr, das Wichtige und Wesentliche zu erkennen und festzuhalten anstatt es zerrinnen zu lassen.
Indem ich mich mit meiner Spur (track) zeige, werde ich.

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Philosophie, Walter Benjamin

Der Philosoph Walter Benjamin (1892-1940) – Archive, Zettelkästen und das Internet

Walter Benjamin (1892-1940)

Walter Benjamin (1892-1940)

Walter Benjamin, einer der genialsten Philosophen des 20. Jh., was meine Ansicht betrifft, starb im Alter von 48 Jahren auf der Flucht vor den Nazis. Lange Zeit galt es als Selbstmord, aber jüngere Forschungen lassen daran Zweifel aufkommen. Er könnte auch ermordet worden sein. Sein letzter Weg ging über die Pyrenäen, auf der Flucht nach Spanien. Das Einzige, was er bei sich trug, war eine Aktentasche. Sie enthielt sein letztes Manuskript. Es ist verschollen.

Benjamin lebte für das Schreiben. Benjamin fasziniert mich. Ich finde es bemerkenswert, dass mich sein Werk nach vielen Jahren wieder einholt – jetzt, wo ich selbst 48 Jahre alt bin. Ich las ihn im Studium, in den 80er Jahren. Er prägte mein Denken wie kein anderer. Ich fühlte mich ihm seelenverwandt. Doch dass er am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat, am 15. Juli, fiel mir erst viele Jahre später auf. 22 Jahre habe ich mich – bis auf winzige Gelegenheiten- – nicht mehr mit ihm beschäftigt. Ich ging selbst durch eine Art Tod. Aber nun kommt wieder das Leben. Das Ende von Unglück ist Glück.

Sein Werk ist hermetisch. Es spannt den Bogen zwischen Mystik und Politik. Es ist spirituell und zugleich profan. Er selbst prägte den Begriff „profane Erleuchtung“. Er war Jude und bekannte sich in den 30er Jahren zum Marxismus. Ab 1933 war er auf der Flucht vor den Nazis. Er verließ Deutschland und lebte mittellos in Paris. Er kannte viele Geistesgrößen der Zeit: z.B. Theodor W. Adorno, Max Horckheimer, Siegfried Krakauer, Berthold Brecht. Bei Brecht in Dänemark lebte er oft im Sommer.
Die Schulwissenschaft sieht ihn nur als weltlichen Intellektuellen. Meiner Ansicht nach war er kabbalistisch motiviert.

Benjamin hatte die Idee, eine Arbeit ganz aus Zitaten zu schreiben. Eine literarische Montage, ähnlich den dadaistischen und surrealistischen Kunstwerken seiner Zeit. Die Montage war eine neue Kunstform. Versatzstücke der Realität wurden zu Kunstwerken zusammengebaut. Der Künstler war nicht mehr der autonome Schöpfer, sondern jemand, der aus der zweiten Natur der menschlichen Technik Dinge entlehnte, sie verfremdete und ummünzte, um einen neuen Blick zu erlangen.

Einige Zitate aus dem Buch „Walter Benjamins Archive“ (Suhrkamp 2006), das ich gerade gelesen habe:

„Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.“ (S. 76)

„Vielmehr ist Sprache (und Schrift) als Verwendung des mimetischen Vermögens anzusehen, als ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen.’“ (S. 79)

„Vielleicht weißt Du garnicht, wie schön es ist, die wechselnden und ungleich gearteten Gedanken so vieler Jahre immer wieder gastfreundlich von den zartesten und saubersten Quartieren, die Du ihnen anweist, aufgenommen zu sehen.“ (S. 122)
Anmerkung: Benjamin meinte mit den „zartesten Quartieren“ die Notizbücher, die ihm der Freund schickte, und die er für seine Entwürfe und Notizen verwendete. Benjamin war es wichtig, auf gutem Papier und in schönen Heften zu schreiben.
So sagte er in „Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“: „Laß dir keinen Gedanken inkongnito passieren und führe dein Notizbuch so streng wie die Behörde das Fremdenregister.“ (S. 122)
Das Heft ist ein Medium, das Verfasser und Werk in Beziehung bringt.

„Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein. Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche, bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben.“ (S. 141)

„Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endliche eine textile, auf der sie gewoben wird.“ (S. 163)

„Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde keine geistvollen Formulierungen mir aneignen, nicht Wertvolles entwenden. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht beschreiben, sondern vorzeigen.“ (S. 196, über seine Passagen-Arbeit).

Irgendwie erinnert mich seine Arbeitsweise auch an meine. Auch ich mag es, Zitate zu bringen und das, was schon an Gutem gesagt wurde, zu würdigen. Es sind die Abfallstücke, die Überreste menschlicher Erkenntnisarbeit.
Benjamin wäre angesichts der heutigen Möglichkeiten des Computers und des Internets sicher ebenso fasziniert wie ich. Was Benjamin noch handschriftlich in Kladden und Zettelkästen festhielt (darum geht das Buch, aus dem die Zitate entnommen sind), und später mühselig auf der Schreibmaschine ins Reine schrieb, kann man heute direkt in den Computer tippen, verändern, kopieren, löschen, überarbeiten, erweitern, verlinken, versenden und auf dem Fuße veröffentlichen – wie in diesem Blog.
Diese technische Errungenschaft wird auch das Erkenntnisvermögen des Menschen nachhaltig verändern, und damit auch unserer Kultur. Wie Peter Sloterdijk ja auch nicht müde wird zu betonen: der Mensch ist ein Produkt seiner eigenen technischen Entwicklung. Wo wären wir heute ohne die Erfindung Gutenbergs, ohne das gedruckte Wort? Wo werden wir in einhundert Jahren sein, aufbauend auf dem, was heute durch die Informationstechnologie möglich wird?

2010 wird sich sein Todestag zum 70. Mal jähren. Das bedeutet, dass das Copyright auf seine Schriften erlöschen wird. Ab 2010 sind seine Schriften „gemeinfrei“, das bedeutet, sie können frei nachgedruckt werden.

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