Authentizität, Selbst

Die reine Freude

Wer meinen letzten Blog über die Reise ins Gefühl gelesen hat, weiß, dass ich nicht versuche, dem Schmerz auszuweichen. Mein Ansatz besteht darin, jedes Gefühl zu fühlen und ihm auf den Grund zu gehen. Es geht nicht darum, sich gut zu fühlen, sondern darum, zu fühlen.

In letzter Zeit bin ich meinem Schmerz, meiner Trauer und meiner Scham auf den Grund gegangen. Das war schmerzhaft, traurig und beschämend. Aber ich ging da durch.

Gestern durfte ich erleben, was das an Heilung ermöglicht.

Ich war auf einem Kirtan-Abend. Kirtan bedeutet, spirituelle Lieder gemeinsam zu singen und dazu zu tanzen. Das war die reine Freude.

Aber das Besondere war: Ich fühlte diese Freude, sie war rein und klar, und sie hatte einen festen Grund. Ich konnte richtig fühlen, wie diese Freude auf festem Grund aufsetzt, wo nichts mehr darunter war. Sie war keine Fassade. Darunter war kein Schmerz, keine Scham, keine Angst, kein Eiter, kein schwankender Grund, kein Matsch, kein schmieriger Glibber. Es war ein einfacher, fester Grund, und da war nichts außer Freude. Das war ein wunderschönes, sicheres Gefühl. Es gab mir Vertrauen und Gewissheit. Ich fühlte mich meiner selbst gewiss. Ich konnte diese Freude unvermischt und klar fühlen, ohne dieses vage Gefühl von Unsicherheit oder Beklemmung, das da ist, wenn die Freude aufgesetzt oder manipuliert ist. Wir kriegen das meist nicht bewusst mit, wenn wir die Freude herbei manipulieren, weil wir diese fixe Idee haben, dass wir uns immer gut fühlen müssen. Aber irgendwie fühlen wir dann doch, da stimmt was nicht. Es ist dann eine mit Schmerz, Trauer, Angst, Scham oder Wut vermischte Freude.

Die Arbeit mit meinen Gefühlen des Schmerzes, der Trauer, der Angst, der Wut und der Scham hat dazu geführt, dass diese Abgründe bereinigt sind. Es ist wie das Ausschaben einer eiternden Wunde, die gereinigt und desinfiziert wird und dann erst heilen kann. Dann erst kann der Schmerz abklingen und die Not wird gelindert. Wenn es dann heilt, bildet sich ein fester Grund. Dieser feste Grund bin ich. Das ist mein inneres Selbst, auf dem die reine Freude dann aufsetzen kann und sich entfalten kann. Dann fühle ich Sicherheit, Geborgenheit und mich selbst.

Die Freude hatte auch im kausalen Sinn einen Grund, weil in der Situation, im gemeinsamen Singen und Tanzen zu schöner Musik, da war die Freude auch begründet. Genauso wie zu anderen Zeiten der Schmerz begründet ist. Diese Gefühle manifestieren sich gemäß der Wirklichkeit, in der ich mich befinde, gemäß dem, was gerade passiert. Sie sind die Sprache, die mich mit der Wirklichkeit verbindet. Es war ein schöner Abend mit wunderbaren, lieben Menschen um mich herum. Wir lachten uns an und feierten. Es war so schön, diese Freude so rein und direkt zu erfahren, zu fühlen. Diese echten Gefühle sind keine Gefühle, dich ich mir mache. Sie sind entsprechend der jeweiligen Situation. Der Abend war ein Grund der Freude. Und zu anderen Zeiten hat man vielleicht einen Grund zu trauern. Dann ist eben Trauer angesagt. Diese Gefühle kommen und gehen. Es ist so schön, diese echten Gefühle fühlen zu können. Ich glaube, es ist deshalb so schön, weil ich dann echt bin. Dann bin ich ich.

Und mir ist klar, diese Freude konnte ich nur fühlen, weil ich zuvor meinen Schmerz gefühlt hatte. Es war eine Freude ohne etwas darunter, ohne Dreck unterm Teppich, ohne verheimlichte, geleugnete Gefühle darunter.

So lerne und verstehe ich zunehmend, dass es die Gefühle sind, die mich in die Genesung führen. Sie führen mich zu mir, und das ist das spirituelle Erwachen. Aufwachen bedeutet „zu sich kommen“. Und das ist so konkret zu verstehen, wie nur irgend möglich: Ich komme zu mir.

Dabei ist es egal, ob das, was ich da fühle, „gut“ oder „schlecht“ ist. Es geht nicht darum, sich gut zu fühlen. Es geht darum, zu fühlen.

Anmerkung:
Der Abend war ein Konzert der Kirtaniyas (www.kirtaniyas.com), eine junge, aufstrebende Kirtan-Band, und fand am 14.01.2012 im Yoga-Zentrum „Lernen in Bewegung e.V.“ in Berlin statt.
Organisiert wurde er von der brillanten und liebenswürdigen Alexandra von Joyfulevents 🙂

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6 Gedanken zu “Die reine Freude

  1. Ein Artikel, der sehr schön und in verständlicher Weise, für viel Menschen veranschaulicht ist, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat. Trauer, Wut, Scham, wie auch Angst sind Gefühle die für uns Menschen wichtig sind. Wer diese Gefühle versucht zu unterdrücken, geht oft eine gefährlichen Weg. Einen Weg der Sonne, die zu „Dürre“ führt. Ohne Regen kein Leben. So ist es auch mit den Gefühlen. Jedes Gefühl ist wichtig auch wenn es schmerzt.

  2. Sabrina schreibt:

    Hallo Ronald,

    das ist ein schöner Beitrag. Ich glaube, ich weiß, was Du meinst. Ich habe auch erlebt, wie es ist, wenn man zwar fühlt, aber nicht sicher ist, ob es denn echte, authentische Gefühle sind. Das sind jene Gefühle, die man nicht mittels Gedanken erzeugt und über die man auch nicht nachdenkt, sondern die man einfach wahrnimmt und annimmt, so wie sie sind. Mir selbst fällt es sehr schwer, zu begreifen, welches Gefühl echt ist und welches nicht. Ich habe viel geweint, auch in den vergangenen Tagen und dachte mir: „Egal, was der Grund für diese Tränen ist, sie sind echt. Dieses Gefühl der Traurigkeit ist echt.“ Vor allem, wenn man sich innerlich leer, sogar irgendwie tot fühlt, ist es tröstlich zu erkennen, dass da weitaus mehr an Gefühl existiert, als ich glaubte.
    Ich wünsche Dir, dass Du noch viele Momente dieser klaren Freude hast.

    • Hallo Sabrina,

      danke für Dein Schreiben. Es tut mir gut. Ich habe die Erfahrung machen dürfen, gleichzeitig den Schmerz zu fühlen und die Freude darüber, dass ich fühle. Es war spürbar, dass dieser Schmerz nun echtes Gefühl ist, und obwohl es weh tat, war da gleichzeitig diese Freude und das Glück über die Gewissheit, dass ich überhaupt fühle und echt bin. Das ist eine starke Erfahrung.
      Ich habe in den letzten beiden Tagen mit der besagten unglücklichen Liebe eine ganz außergewöhnliche Erfahrung gemacht, in der ich meine Verantwortung mit aller Ehrlichkeit angenommen habe und erkannte, dass ich das Nein nicht akzeptiert hatte und dadurch in Vorwürfe und Verletztheit gekommen bin, es aber in keinster Weise berechtigt war, das dem anderen anzulasten. Ich habe dann meinen Fehler zugegeben und um Verzeihung gebeten. Diese Bitte wurde angenommen und es öffnete die ganze Beziehung total und die Herzen berührten sich. Ich fühle mich seitdem hell und licht wie eine Kristallwiese. Es heißt im 12-Schritte-Programm: „Wir fuhren mit der täglichen Inventur fort und wenn wir Fehler machten, gaben wir sie sofort zu.“ Das war für mich die Lösung. ich kann dir garnicht sagen, wie stark und energetisch diese Aktion war, meinen Fehler zu erkennen und zuzugeben. Das bedeutet nicht, dass der andere keinen Fehler macht. Aber das geht mich im Grunde nichts an. Es ist nicht meine Zuständigkeit. Ich bin für mich verantwortlich. Habe heute auch einen längeren Text darüber geschrieben, ist aber noch in Arbeit.

      Lieben Gruß Ron

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