Berlin, Spirituelle Kultur

Berlin Blog – Rap und Religion

19.09.2010

Ja, ich war auch am Reichstag.

»Urban word is a movement«

Gestern, Samstag, war mal wieder ein höchst ereignisreicher Tag hier in Berlin. Es fing schon am Freitag an. Ich war nachmittags auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin im Haus der Kulturen der Welt im Regierungsviertel. Dort war eine Veranstaltung zu einer Buchneuerscheinung: Joe Conzo: »Born in the Bronx. Hip Hop – Die Geschichte einer urbanen Kultur«
Dort traf ich jemanden vom Gangway e.V., einer Berliner Streetworker-Initative, und erfuhr etwas von Gangway-Beatz, einem Hip Hop-Projekt von Jugendlichen aus sozial problematischen Kiezen. Gerade machen sie einen Schüleraustausch, die »Berlin-Bronx-Connection« und es waren ca. 10 Jugendliche aus der Bronx da.
Am Samstagmorgen dann las ich zufällig im Tagesspiegel, dass um 12h am Gesundbrunnen im Wedding, unweit meiner Wohnung, eine Führung durch das Viertel stattfinden sollte mit dem mysteriösen Titel: »Rap und Religion«.
Wie es die Fügung wollte, besichtigten wir nicht nur eine Moschee und einen orientalischen Laden, sondern auch das Stadtteilbüro des Gangway e.V. und ich erfuhr von der am Abend geplanten CD-Release-Party des zweiten Gangway-Beatz Samplers.

Gangway Beatz Vol. 2

Schnell übers iPhone ins Internet fand ich den Veranstaltungsort und ging abends dort hin.
Soweit die Zusammenfassung, jetzt nochmal von vorne etwas ausführlicher.

Freitag, Internationale Literaturtage
Joe Conzo, der Autor des Buches, ist Puertoricaner und in der Bronx aufgewachsen. Er ist Fotograf und begann bereit im Alter von 11 Jahren zu fotografieren. Born in the BronxEr gehörte zur »Community«, zu den schwarzen und farbigen Ghetto-Kids, die die ersten Schritte des Rap und Hip Hop einleiteten. Damals gab es keine Clubs oder Discotheken für diese Musik. Sie entstand auf der Straße, die Kids mieteten dann die Turnhallen ihrer Schulen, brachten zwei Plattenspieler und die Schallplatten ihrer Eltern, wie z.B. James Brown, R&B, Funk, Soul, Blues und machten daraus ihre eigene Musik. Conzo erzählte, sie hatten genug von Gewalt und Drogen und wollten was anderes. Sie sangen und tanzten, sie verwendeten die Schallplatten ihrer Eltern, indem sie sie scratchten oder einzelne Beats mit den zwei Plattenspielern in auditiven Collagen neu zusammenfügten. Die Breakbeats entstanden einfach so. Sie wussten damals nicht, was sie da ins Rollen brachten. Es war eine politische Bewegung, könnte man sagen. Die Leute sangen sich ihren Frust vom Herzen, sie suchten nach einer Identität, sie bildeten Gemeinschaften, sie waren kreativ.
(Für weitergehende Information sei auf Wikipedia verwiesen: http://de.wikipedia.org/wiki/Hip_Hop)
Hip Hop hielt sich über die Jahre, erfuhr eine Kommerzialisierung ohnegleichen, und selbst heute noch, nach 35 Jahren, gibt es die authentischen Roots, gibt es eine Bewegung von jungen Menschen, die nicht um des Geldes willen diese Musik machen, sondern weil es ihnen eine Herzensangelegenheit ist, weil sie dafür brennen.
Soweit ich das überblicke, ist Hip Hop die zur Zeit einzige inhaltlich, sozial und politisch motivierte Musikform überhaupt. Sie ist die einzige lebende Musikform, die von der Straße, von den realen Lebensverhältnissen der Menschen kommt.
In den sozialen Randbezirken Berlins, im Wedding, in Mahrzahn, in Neukölln, sind es vor allem die Kids aus Migrationsfamilien. An den Schulen sind bis zu 90% der Schülerinnen und Schüler Ausländer, die finanzielle und soziale Situation ist kritisch, die Zukunftaussichten sind hoffnungslos. Es ist verständlich, dass in einem solchen Umfeld die Frustration und die Gewalt zunehmen. Gangway e.V., eine Streetworker-Initiative, holt diese Jugendlichen ab und versucht, ihnen über die Musik einen neuen Lebensinhalt zu geben.

CD-Release-Party
Gestern Abend nun war die CD-Release-Party der zweiten Gangway-Beatz-Scheibe. Conzo war da, die Kids aus der Bronx und natürlich die Berliner Kids. Die Location ein echter Underground-Schuppen, der Tape Club in der Heidestraße 14.

Tape Club

Die meisten der Anwesenden waren wohl um die 20 oder jünger, einige Ältere gab es auch, vielleicht um die 30. Aber ich schätze mal, dass ich da so ziemlich der Älteste war. Ich höre Rap seit etwa 1982, als ich mal in Köln in einer Musikkneipe eine total ungewöhnliche, unglaublich treibende Musik mit puren Beats hörte und den DJ fragte, was in aller Welt das sei. Er schrieb es mir auf einen Zettel, weil ich es mir unmöglich merken konnte: Grandmaster Flash and the Furious Five. Jahre später waren sie richtig berühmt und sie gehören heute zu den Urvätern des Rap. Ein Freund hatte dann auch die legendären »Electro«-Platten entdeckt, wo die unzähligen Bands und Sänger auf LPs gesammelt waren, pro Band ein Stück. Da waren schon alle vertreten: Sugarhill Gang, Afrika Bambaataa, Captain Rock usw. Später kamen dann Public Enemy und viele andere, deren Namen ich gerade nicht erinnere. Viele von ihnen performen heute noch. Afrika Bambaataa, einer der berühmtesten Rapper überhaupt, macht auch heute noch in New York unkommerzielle Projekte und legt in Parks oder auf Straßenfesten kostenlos auf, wie Joe Conzo berichtete.

Gangway Beatz Vol. 2

Jedenfalls war dann gestern Abend echter Rap geboten. Es war eine üppige Fülle an Musikerinnen und Musikern, alles junge Menschen. Sie traten alleine oder zu zweit oder zu dritt auf, manchmal wechselten die Formationen und man sang in anderer Besetzung zusammen. Keiner spielte ein Instrument. Der musikalische Teil wird ausnahmslos von Platten eingespielt und vom DJ mit den Breakbeat-Techniken bearbeitet. Auf der Bühne stehen nur die Sängerinnen und Sänger. Es geht um Text. Und das ist ja etwas, was mir gefällt. »Urban word is a movement« hatte ein Mädchen aus der Bronx auf ihrem T-Shirt stehen. Hier entsteht Literatur, hier entstehen Texte. Es ging um die Freiheit des Menschen, um Würde und Menschenrechte. Die Texte prangerten Rassismus an, die Lebensverhältnisse im Kapitalismus, sie sangen gegen Gewalt und für ein besseres Leben. Sie thematisieren Gefühle und ihr neues Leben mit der Musik, dass das alte Leben der Gewalt und der Drogen abgelöst hat. Gute, engagierte Texte.

Die Führung durch den Wedding
Habib, der sechszehnjährige Stadtführer pakistanischer Herkunft, der uns die Verbindung von »Rap und Religion« nahebrachte, machte auch Hip Hop bei Gangway e.V.

Kiezführer Habib (rechts) und sein Bruder

Dort darf man in den Texten, so berichtet er, keine gewalttätigen oder sexistischen Ausdrücke verwenden, sonst wird man aus dem Projekt ausgeschlossen. Hip Hop ist ja heute etwas in Verruf gekommen, durch sensationsgeile Kommerz-Interpreten wie Sido u.ä., die sich vor allem durch ordinäre und gewaltverherrlichende Texte hervortun. Gangway e.V. achtet darauf, dass die Kids nicht auf die schiefe Bahn kommen. Habib und sein Bruder sind Beispiele, dass das funktioniert. Habib erzählte sehr stolz, dass er nun auf dem Gymnasium ist, und es wurde deutlich, dass ihm die Schule etwas bedeutet. Er stellt sogar das Rappen erstmal zugunsten der Schule zurück.
Und die Rapperinnen und Rapper am Abend zeigten, was in ihnen steckt. Sie haben was zu sagen, sie sind nicht blöd.
Hier kann man sich die Musik anhören und die CD bestellen.

Die Moschee
Habib führte uns am Nachmittag dann auch noch in eine Moschee. Wir, zehn Deutsche mit Multi-Kulti-Affinität, saßen also in der Moschee, und wie es der Zufall wollte, waren gerade einige Geistliche aus anderen Städten da, die am Wochenende auf Predigertour gehen. Es waren sehr gläubige Moslems eines bestimmten Sufi-Ordens (Dawat-e-Islami), die man an ihren grünen Turbanen und weißen Kaftans erkennt.

praktizierende Moslems in der Moschee

Sie strahlten alle eine große Liebe und inneren Frieden aus. Sie stellten sich unseren kritischen Fragen und es war schön, diese äußerlich so befremdlich wirkenden Männer mit langen Bärten und islamischer Kleidung mal aus der Nähe zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Einer ist Informatiker, ein anderer arbeitet bei Bosch in Stuttgart in einer technischen Abteilung.
Sie erklärten uns ihre Gebetspraxis der fünf Tagesgebete. Die Gebete selbst dauern nur 4-5 Minuten, dem geht eine kurze Waschung von Gesicht, Händen und Füßen voraus. Alles in allem höchstens zehn Minuten. Die Gebete finden in einer bestimmten Zeitspanne statt, die je nach Tagesgebetszeit so zwischen 30 Minuten bis zwei Stunden liegt. Irgendwann in der Zeit soll man das Gebet machen. Man ist also recht flexibel und kann die Gebete meistens ganz gut in den Tagesablauf einbauen.
In der Moschee, die eigentlich eine umgebaute Lagerhalle im Hinterhof ist, empfand ich eine wunderschöne friedliche Stimmung, eine spirituelle Atmosphäre. Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich in einer solchen Hinterhof-Moschee war, und auch beim ersten Mal, damals in Bensheim, hatte ich diese Stimmung erlebt. Es liegen schöne weiche Teppiche aus, es ist sauber und es geht um Gott. Es sind Orte des Gebets, der Meditation und der spirituellen Sammlung.
Es war schön, hier mal ohne Berührungsängste zusammenzusitzen und miteinander zu reden. Fast eine Stunde verbrachten wir dort. Es wurde klar, dass »Islam« auf Deutsch »Frieden« heißt. Hier waren keine fanatischen Terroristen, sondern gläubige Menschen. Ein alter, vermutlich türkischer Mann war auch in der Moschee, er schien etwas irritiert und fragte die Geistlichen aufgeregt, was das für Leute hier seien. »Alles Deutsche?« Sowas war ihm wohl noch nie vorgekommen.

Deutsche Besucher in der Moschee im Wedding

Es ist erstaunlich, wie tief die Gräben sind, wie fremd sich hier die Kulturen gegenüber stehen. Dabei könnte das durch ein wenig Dialog und Zusammensitzen radikal verändert werden. Mir wurde jedenfalls klar, dass das hier ganz normale Leute sind. Sie sind halt nur anders angezogen. Da ich selbst ein spirituell eingestellter Mensch bin, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart geradezu wohl. Aber ich weiß auch, dass ich die gleichen Leute, auf der Straße als Fremde gesehen, wohl mit Misstrauen und Befremden angeschaut hätte.
Es war schön zu erleben, wie Habib, der sechszehnjährige Berliner pakistanischer Abstammung, uns völlig unprätentiös und unideologisch den Islam erklärte. Es war von Wertschätzung und Liebe getragen. Wir fragten ihn, wie die Jugendlichen im Islam das mit der Religion so sehen, ob ihnen das peinlich sei, wie das bei uns Christen doch oft so ist. »Nein, wer bei uns religiös ist, wird respektiert und geschätzt.«
Habib und sein Bruder über Rap, Religion und »Problemkinder«:

Abends in dem Club sah ich einen jungen Türken zu einem älteren hinzutreten und sich begrüßen. Der Ältere hatte eine Flasche Bier in der Hand. Der Junge zeigte auf die Flasche und ermahnte ihn mit einem schelmischen Gesicht und schien sagen zu wollen: Ein guter Moslem trinkt keinen Alkohol. Das tat der Freundschaft keinen Abbruch. Aber ich finde es begrüßenswert, wenn junge Leute ihr Heil nicht in Alk oder Drogen suchen.
Hier ein typisches Stück zum Hören: Kaveh ft. Karim – Rebellier
Ich finde es im übrigen auch immer wieder bewundernswert, die jungen Musliminnen zu sehen, die es gerade hier im Wedding zahlreich gibt. Einige sind verschleiert, andere nicht. Aber ich sehe immer wieder, dass sie dick befreundet sind. Es scheint keinerlei Vorbehalte zu geben, weder von der einen noch von der anderen Seite. Jede ist frei, das nach Gusto zu handhaben. Es scheint mir total ausgewogen zu sein. Es kippt nicht auf die eine oder andere Seite, wonach dann die Gegenseite die verworfene wäre. Das interpretiere ich mal so für mich als ein freigeistiges Element im Islam oder zumindest im europäischen Islam. Gesternabend habe ich mir dazu noch überlegt, inwieweit der Schleier für manche Mädchen vielleicht auch ein Style ist, also eine Kleidungsmode, denn diese sind dann schick gekleidet und die Kopfbedeckung ist kunstvoll ins Ensemble eingefügt. Was es für viele ebenfalls auszudrücken könnte, ist ein Bekenntnis zu Treue in der Ehe, also eine romantische Komponente. Sie wollen einen Ehemann und keine Experimente. Ich finde das beruhigend. Nicht ganz zuletzt wird es wohl auch eine Identifiktationsfläche für eine eigene kulturelle Identität sein. Als Türkin ist man halt keine Deutsche. Das bekommt man von deutscher Seite schon zu spüren. Also ist man besser stolz, eine Türkin zu sein.
Joe Conzo, der Puertorikaner, erzählte übrigens von der Bronx, dass sie irgendwann in den Siebzigern den zweisprachigen Unterricht in der Schule durchgesetzt haben, spanisch-englisch. Ein großer Fortschritt für die ethnischen Minderheiten und heute eine Gütesiegel für die kulturelle Offenheit der amerikanischen Gesellschaft. Man stelle sich das mal in Deutschland vor.

Hier nun zwei Videos von der Kiez-Führung mit den beiden Jungs Habib und sein Bruder:


Habib und sein Bruder führen uns durch den Wedding an die Stellen, wo die Jugend aus sozial problematischen Strukturen den Islam und Hip Hop praktizieren. Sie sprechen über Rap, Religion, Problemkinder, über das Streetworker-Projekt »Gateway e.V.« und sich selbst.


Junge Rapper sprechen über ihre Musik und den Zusammenhang mit ihrer Religion des Islam.

Resümee
Wie in der Biologie scheint es wohl auch in der Kultur zu einer Befruchtung zu kommen, wenn zwei verschiedene Wesen sich vereinen. Rap und Religion, Orient und Okzident, Islam und westliche Zivilgesellschaft – das können auch alchemistische Mischungen sein, aus denen neues Leben und neue Kultur entsteht. Wir entwickeln uns als Menschen und als Menschheit immer weiter. Wir verändern uns, wie wachsen und erschaffen Neues. Wir können uns freuen über diese Lebendigkeit.
Wir können dies alles als Reichtum sehen. Die »Problem-Kids« haben eine kreativen Weg gefunden, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Ich sah da sehr viel Kreativität und Potential. Es tat gut, sie zu sehen und zu hören.
Berlin bietet diesen Schmelztiegel in herausragender Weise. Hier wird Blei zu Gold.
Für mich war es eine schöne Begegnung mit dem Islam und mit urbaner, echter Kunst von unten.

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Die Veranstalter der Kiez-Führungen ist der Verein Kultur bewegt e.V.: http://www.route65-wedding.de/
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Ein Original-Video von Gangway Beatz:

Und hier ist noch eine Eigenaufnahme vom gestrigen Abend, leider mit wenig Licht und nicht gerade der besten Audio-Qualität. Aber es geht ja um die Message:

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3 Gedanken zu “Berlin Blog – Rap und Religion

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