12 Schritte-Programm, Sein-Kolumne, Selbst

Gelassenheit

»Wir taten alles, um die Illusion zu bewahren, dass wir die Kontrolle über unser Leben hätten. Auf diese Weise hinderten wir uns selbst daran, jene Gelassenheit zu erlangen, die wir erhalten, wenn wir dem Willen einer Höheren Macht gegenüber kapitulieren.«1

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Dieses Zitat aus einem Buch des Zwölf-Schritte-Programms zeigt, wie hier die Gelassenheit erreicht wird. ›Loslassen und Gott überlassen‹ ist eine bekannte Devise. Wir übergeben unseren Willen der Fürsorge einer Höheren Macht und glauben daran, dass diese Höhere Macht liebevoll und barmherzig ist. Und wir glauben daran, dass dieser göttliche Wille das Beste für uns ist. Unsere eigenen menschlichen Ratschlüsse können diese Weisheit niemals erreichen.

Neulich sprach ich mit einer Person, die der buddhistischen Tradition zugeneigt ist. Sie erklärte mir, dass das Ziel des Buddhismus darin besteht, die Erscheinungen im Geist, d.h. die Gedanken und Gefühle, wie Wellen auf der Oberfläche zu betrachten, die keine wirkliche Bedeutung haben. Sie kommen und gehen und haben nichts mit mir zu tun. Wenn ich das verstanden habe, entsteht große Gelassenheit, weil ich mich nicht mehr mit den Gedanken und Gefühlen identifiziere.

Dies sind zwei radikal unterschiedliche Zugangswege. Der moderne pluralistische Ansatz würde nun sagen: das muss jeder für sich selbst wissen und alles ist gleich gut. Es lassen sich hier indes deutliche Unterschiede bemerken: der Weg mit Gott baut darauf, dass es eine höhere Macht gibt, die mein Leben führt. Der buddhistische Weg funktioniert komplett ohne Gott und baut auf die Eigenleistung des Menschen. Während der Weg Gottes bedeutet, meine Kontrolle als Illusion zu betrachten und aufzugeben, impliziert der buddhistische Weg, dass es meiner Kontrolle unterliegt, was mit mir geschieht. Diese Kontrolle wird dadurch erreicht, dass ich mich von meinen Gedanken und Gefühlen abtrenne.

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Im Weg mit Gott unterliegen sowohl meine Gedanken als auch meine Gefühle dem Willen Gottes und sind somit wesenhaft. Wenn ich mich dem Willen Gottes hingebe, fühle und erlebe ich die Dinge, die dem göttlichen Willen entsprechen. Meine Gedanken und insbesondere auch meine Gefühle gehören zu mir und haben eine wesenhafte Bedeutung.

1 Nur für heute, Narcotics Anonymous World Services Inc., 2004, S. 341

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4 Gedanken zu “Gelassenheit

  1. „Neulich sprach ich mit einer Person, die der buddhistischen Tradition zugeneigt ist. Sie erklärte mir, dass das Ziel des Buddhismus darin besteht, die Erscheinungen im Geist, d.h. die Gedanken und Gefühle, wie Wellen auf der Oberfläche zu betrachten, die keine wirkliche Bedeutung haben. Sie kommen und gehen und haben nichts mit mir zu tun. Wenn ich das verstanden habe, entsteht große Gelassenheit, weil ich mich nicht mehr mit den Gedanken und Gefühlen identifiziere.“

    Aber lebt man nicht durch das Fühlen? Macht das uns nicht erst zum Mensch?

    Ich bin deutlich irritiert und ich würde mich über eine Antwort sehr freuen!

    Viele Grüße

    Kai

    • Lieber Kai,

      Danke für deine Frage. Wie aus meinem Beitrag hervorgeht, bin ich ja kein Anhänger dieser buddhistischen Idee. Ich finde wie du, dass man aus dem fühlen lebt und dass das uns als Menschen ausmacht. Die buddhistische Vorstellung ist meines Erachtens falsch, wobei das auch darauf ankommt, wie man es versteht. Eine etwas oberflächliche Vorstellung ist, dass man die Gefühle und Gedanken einfach übergehen kann. Die Gefahr bei einer solchen Handhabung ist meines Erachtens ziemlich nahe liegend: man verdrängt das Problem, anstatt es zu lösen. Das richtige Verständnis wäre aber das, was seinswandel in seinem Kommentar schreibt, nämlich ein ungehindertes Fließenlassen, bei dem die Gefühle schon wahrgenommen und auch respektiert werden.

      Dennoch bin ich der Meinung, dass diese buddhistische Herangehensweise das Problem nicht löst, sondern er verschiebt. Wie ich mit Gefühlen umgehe, habe ich in zahlreichen Einträgen auf diesem Blog beschrieben. Grundsätzlich finde ich, ein echtes Gefühl zeigt mir immer eine Sache, um die ich nicht kümmern muss, zum Beispiel ein Bedürfnis oder eine Ungerechtigkeit. Wenn ich meine Gefühle als Navigator nehme, dann kann ich meine Themen wirklich aufarbeiten und in die Lösung kommen. Das ist was anderes, als sie auf einem Meditationskissen ins Nirwana zu transzendieren.

      • Dankeschön für diese aussagekräftige Antwort! Ich mag Ihr Teilen der Gedanken und Gefühle sehr.
        Nicht zum ersten mal stolpere ich über die Geschichte mit dem verdrängen der einzelnen Gefühle. Für mich persönlich ist es undenkbar (fast) immer in meiner Mitte zu bleiben. Mal ehrlich, das möchte ich auch gar nicht. Dadurch würde ich mein Lebendigsein verlieren. Ich freue mich auf weitere Beiträge und den Austausch dazu. Liebe Grüße – Kai

  2. Die Bandbreite der buddhistischen Schulen ist ja sehr groß. Ich denke, es geht zunächst um die Einsicht, dass ausnahmslos alle Erscheinungen vergänglich sind. Sich nicht vollständig damit zu identifizieren, seien es Gedanken oder Gefühle, ist sicherlich eine Übung der Gelassenheit, bedeutet aber nicht zwangsläufig Ablehnung oder Abspaltung. Aufgabe der Anhaftung bedeutet nicht Kontrolle, sondern eher ungehindertes, freies Fließen. Dazu gehört das sehr häufig behandelte Paradox, dass sich das gerade nicht durch Leistung erlangen lässt. Der eigene Wille ist eine ambivalente Angelegenheit.

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