Sein-Kolumne

Die Dichter

OLYMPUS DIGITAL CAMERA„Die Dichter sind nicht die Ärzte, sondern der Schmerz“,

hat Gottfried Benn mal gesagt. Was das heißt, verdeutlichen diese schönen Zeilen von Rainer Maria Rilke:

 

 

 

Liebeslied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Manche Leute in der Esoterik-Szene gehen davon aus, dass wir immer unabhängig sein sollen, dass wir unsere Entscheidungen alleine treffen und niemanden brauchen dürfen. Aber Rilke fasst es ganz klar in Worte: wenn wir uns begegnen, entsteht ein Drittes, ein einziger „Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht“. Wir können uns dem nicht entziehen. Es sei denn, wir wählen die Isolation.

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Wir sind keine isolierten Monaden, die nur echt sind, wenn sie völlig unabhängig und unbeeinflusst von außen oder von anderen Subjekten sind. Jede noch so kleine Berührung oder Begegnung verändert uns und bildet eine neue Summe, ein neues Produkt. Wir sind Individuen, die nur in der Beziehung existieren und bedeuten.

Verschiedene spirituelle Philosophien verkennen diesen Sachverhalt. Sie gehen soweit, das Außen als Illusion oder Konstruktion hinzustellen, nur um diese Interdependenz zu leugnen. Als ob Abhängigkeit per se schlecht wäre.

Wir sind intersubjektive Wesen, abhängig von Gott und von der Luft und von der Liebe der anderen. Dazu gehören Wahrheit und Ehrlichkeit. Immunisierungsstrategien, die auf Unabhängigkeit setzen, können dem nicht gerecht werden.

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2 Gedanken zu “Die Dichter

  1. Andreas Freund schreibt:

    – Die neue Mathematik: 1 + 1 > 2. Das Ganze ist grösser als die (einfache) Summe der Teile. – Ich würde noch Demut hinzufügen.

  2. Sabine Kause schreibt:

    Ist es nicht die ewige Suche nach dem/der Einen, unserem Gegenstück, das uns unvollständige Personen vollständig machen soll…?
    …der Wunsch nach Verschmelzung, nach Einswerdung, der die Arterhaltung günstig beeinflusst….!
    Erst die Reflexion auf das eigene Ich, die Bewusstwerdung der eigenen Schatten-Anteile, ohne deren Kompensation oder Übertragung auf das Gegenüber, lässt uns bewusster werden (selbstbewusster).
    Wir machen uns ein Bild von dem geliebten Menschen, ohne ihn wirklich zu kennen, und die fehlenden Puzzlestücke kreieren wir nach eigenem Wunschdenken.
    Aber es ist nicht seine Schuld, wenn er nicht tatsächlich diesem Bild entspricht.
    Realistisch betrachtet: jede Enttäuschung entspricht einer Selbsttäuschung…!
    Aber wie kann man jemanden begehren ohne Begehr..?
    Liebe aus einem Bewusstsein der Fülle und nicht aus Bedürftigkeit.

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